Der gebürtige Schweizer Franz Lehner lebt und arbeitet seit vielen Jahren im Ruhrgebiet. Er ist emeritierter Professor für angewandte Sozialforschung der Ruhr-Universität Bochum und ehemaliger Präsident des Instituts Arbeit und Technik. Er ist als wissenschaftlicher Berater und Publizist tätig. Gemeinsam mit Hans-Peter Noll hat er jetzt ein Buch über die vermeintliche Metropole Ruhrgebiet geschrieben.
Michael Voregger: Der Titel lautet „Ruhr: Das Zukunftsprojekt – Von der eingebildeten zu wirklichen Metropole“. Einen Titel für ein Buch zu finden ist ja immer schwierig. Warum dieser Titel?
Franz Lehner: Weil uns immer geärgert hat, dass in der Region überall „Metropole Ruhr“ geschrieben wird. Das Ruhrgebiet ist zwar groß, aber es ist deshalb noch lange keine Metropole. Man lügt sich da gerne in die Tasche. Was mich ebenso stört, ist, dass viele sagen: „Wir sind Metropole Ruhr“, aber dann tun sie nichts mehr. Und denken, die anderen seien zu blöd, das zu merken. Statt zu überlegen: „Wie werden wir attraktiver?“ gehen sie auf ihren Trampelpfaden weiter. Das war der Hintergrund für den Titel, aber der Schwerpunkt liegt bei „Ruhr: das Zukunftsprojekt“. Wir haben es konstruktiv und nicht nur negativ benannt.
Michael Voregger: Was ist die Vision für das Ruhrgebiet und wie ist der Ausblick?
Franz Lehner: Uns ist klar, dass das Ruhrgebiet keine Metropole wie Paris oder London werden kann. Das ist auch nicht interessant, denn das sind die Metropolen des letzten und vorletzten Jahrhunderts. Sie tragen die Probleme in sich, die auch wir haben – nämlich vor allem ökologische. Wenn das Ruhrgebiet eine Metropole sein will, dann sollte es sich als solche dadurch hervorheben, dass sie die Probleme des 21. Jahrhunderts angeht und Lösungen anbietet. Wir müssen ökologisch nachhaltig werden – gerade in den Städten, und wir müssen den schwierigen Wechsel in die Wissensgesellschaft bewerkstelligen.
„Das Ruhrgebiet ist zwar groß, aber es ist deshalb noch lange keine Metropole. Man lügt sich da gerne in die Tasche.“
Michael Voregger: Wir bewegen uns im neuen Jahrhundert, das ist noch nicht alt, und es dauert noch einige Zeit an. Was macht die Metropole des neuen Jahrhunderts aus?
Franz Lehner: Eine Metropole ist generell ein Stadtraum, eine Agglomeration, ein urbaner Raum, der kulturell, wissenschaftlich und ökonomisch weit ausstrahlt. Der dem Strukturwandel nicht hinterherläuft, sondern den Strukturwandel vorgibt, der zeigt wie es geht. Wenn Sie zum Beispiel große Metropolen wie Paris und London oder kleine wie Zürich sehen, dann wird dort vieles vorgedacht. Es entstehen neue wissenschaftliche Entdeckungen, da wird Mode gemacht und vieles mehr. Eine Metropole ist ein urbaner Raum, der ganz vorne im Strukturwandel liegt. Darauf kommt es an, und das muss das Ruhrgebiet werden. Bisher laufen wir immer hinterher, und vor allem wenn wir sehen, was die offizielle Wirtschaftspolitik der Kommunen ist. Dann springen wir auf das auf, was woanders schon läuft – früher Informationstechnologie, dann Biotechnologie und jetzt Digitalisierung. Dabei übersehen wir häufig, dass wir in vielen Bereichen bereits ganz weit vorne sind. Bei IT-Sicherheit ist das Ruhrgebiet mit das Feinste, was es in Deutschland gibt. Auch bei Biotechnologie sind wir sehr stark, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Michael Voregger: In den letzten Jahren wurde immer gesagt, der Strukturwandel sei noch nicht ganz abgeschlossen. Man hat sehr stark auf den Bereich Dienstleistungen gesetzt. Ist das eine Möglichkeit, oder führt das in die falsche Richtung?
Franz Lehner: Das Ruhrgebiet als Dienstleistungsgesellschaft zu sehen, führt in die völlig falsche Richtung. New York, London, Paris und zunehmend auch Zürich können tatsächlich allein von Dienstleistungen leben. Aber der größte Teil unserer Bedürfnisse erfordert industrielle und materielle Güter. Selbst ein gentechnisches Produkt, das zu 90 Prozent aus dem Wissen über Gene besteht, ist am Ende immer noch ein industrielles Produkt. Deshalb hat es gar keinen Sinn, wenn eine alte Industrieregion versucht, eine große Dienstleistungsregion zu werden. Wir müssen überlegen, wie wir die Industrie hier neu erfinden. Wie wir das, was weggebrochen ist, durch zukunftsfähige Industrien ersetzen. Das machen wir auch schon ein gutes Stück. Wir vergessen im Ruhrgebiet jedoch immer, dass es neben dem, was viele Probleme macht, was halt aus dem alten industriellen Kontext herauskommt, auch unheimlich viele gute mittelständische Unternehmen gibt. Zum Teil in ganz anderen Bereichen, und da sind in wenigen Jahren tausende von Arbeitsplätzen entstanden – auch hochkarätige Arbeitsplätze. Das sieht man nur nicht immer, weil wir viel zu schludrig mit unseren Flächen umgehen. Weil wir sie verscherbeln an Billigproduzenten, an Sonnenstudios, an Logistik, Einzelhandel und dergleichen mehr.
Michael Voregger: Sie haben Zürich als ein Beispiel für eine Metropole mit sehr hochwertigen Dienstleistungen genannt. Was sind das für Dienstleistungen im Ruhrgebiet, die wir anbieten und nachfragen? Liegt hier ein Grund für die Verarmung und soziale Spaltung der Gesellschaft?
Franz Lehner: Das ist generell ein Problem des Ruhrgebiets: dass wir eine Spaltung und sehr viele arme Leute haben. Wir fördern das ja auch ein Stück weit. Die meisten Wirtschaftsförderer suchen, wenn eine Fläche frei wird, immer nach irgendjemanden, der Arbeitsplätze bereitstellt. Das Beispiel Bochum: da geht Opel fort, und es fallen 2000 oder sogar 3000 Industriearbeitsplätze weg. Ganz schnell kommt ein Dienstleister, wie zum Beispiel DHL, und bietet vielleicht 300 höherwertige Arbeitsplätze an. Ansonsten gibt es dort, und auch im Umfeld, eher wenig qualifizierte Arbeitsplätze. Das hat natürlich Folgen. Wenn jemand im Umfeld des Ruhrgebiets niedrig qualifiziert ist, hat er hier eine gute Chance. Weil es hier viele Menschen gibt, die nicht viel verdienen, die Hartz 4 bekommen, und so gibt es auch günstige Wohnungen – wir haben die mit Abstand günstigsten Wohnungen in Deutschland. Also kommen die Leute her, die günstige Wohnungen suchen, nicht viel Geld haben und möglicherweise auch nicht die Qualifikation für tolle Jobs mitbringen. Das sieht man zum Beispiel bei den Zuwanderern aus Osteuropa. Die gut ausgebildeten Fachleute – die landen an anderen Orten. Wir bekommen viele Leute, die schon in Rumänien und Bulgarien kaum in der Lage waren, wirtschaftlich selbständig zu überleben.
Michael Voregger: Was sind die Schwächen des Ruhrgebiets, und was sind die Stärken?
Franz Lehner: Die Schwächen sind für mich sehr stark, dass wir immer noch ein Kirchturmsdenken haben – nicht nur die Politiker. Wir denken das Ruhrgebiet immer noch zu wenig im Ganzen, und wir nutzen es auch nicht als Ganzes. Als vor einigen Jahren die schwarz-gelbe Landesregierung auf die Idee kam, noch ein paar Fachhochschulen aufzustellen, da haben alle Orte im Ruhrgebiet geschaut, das sie eine FH bekommen, und jetzt haben wir überall kleine Fachhochschulen. Wir hätten auch sagen können, dass das Ruhrgebiet eine Einheit ist. Wir haben auch nie eine funktionale Differenzierung im Ruhrgebiet entwickelt. Das typische Verhalten ist: Wenn die Landesregierung etwas Neues machen will, dann schreien alle Kommunen: „Hier!“. Dabei könnte man sich, wenn das Land investiert, auf einen Ort konzentrieren und die Stärken sich hier langsam entwickeln lassen. Essen hat neben sich Duisburg, Bochum und Gelsenkirchen – hier wollen alle auch alles anbieten, so dass keine Stadt wirklich ein Zentrum wird. Wenn hier Arbeitsteilung betrieben würde, dann wäre zum Beispiel Dortmund das Oberzentrum der IT-Industrie für das ganze Ruhrgebiet. Essen könnte das in der Biotechnologie sein, und Duisburg zum Beispiel in der Logistik – was es ja auch langsam wird. An diesem Zentrum hängen andere Städte, und der Hafen in Gelsenkirchen profitiert zum Beispiel davon. Das müssten wir in anderen Bereichen auch machen, das wäre der richtige Weg.
Michael Voregger: Es wird ja auch gerne von der Hoffnung auf die „Kreative Klasse“ gesprochen. Das ist oft mehr Mythos als eine wirkliche Option für eine tragfähige Entwicklung. Wieso spielt das eine so große Rolle?
Franz Lehner: Das ist wieder ein typisches Beispiel, wo das Ruhrgebiet dem Strukturwandel hinterherhinkt. Irgendwann kamen die „Kreative Klasse“ und die „Kreativwirtschaft“ hoch. Das ist übrigens ein alter Hut und nicht das, was wirklich trägt. Doch da springen alle drauf und sagen, das sei jetzt das Patentrezept für‘s Ruhrgebiet. An jeder Ecke wird „Kreativwirtschaft“ gemacht, und in jedem Stadtprospekt ist davon die Rede. Das ist auch sicher ein Dienstleistungsbereich, der an Bedeutung zunimmt, mit Design, Architektur und anderen Sachen. Den braucht man auch, aber er ist nicht die Lösung. Die Leute denken immer noch in den alten Kohlezeiten – da gab es Kohle und Stahl, das war eine Monostruktur. Und jetzt soll die „Kreativwirtschaft“ die Lösung werden. Ich halte das für ein zu kurzes Denken. Da machen sich viele Leute die Welt zu einfach. Auf so etwas aufzuspringen – das ist einfach nur daneben. Tatsächlich brauchen wir dutzende solcher Geschichten, und wir brauchen auch das, worin wir schon stark sind. Wir haben zum Beispiel mit Evonik einen interessanten Chemiekonzern, und wir haben eine sehr gute Werkstoff-Industrie.
„Wir müssen überlegen, wie wir die Industrie hier neu erfinden. Wie wir das, was weggebrochen ist, durch zukunftsfähige Industrien ersetzen.“
Michael Voregger: Wieso gibt es in der kommunalen Politik diesen starken Bezug auf die Kreativen, die als Lösung für viele Strukturprobleme herhalten sollen?
Franz Lehner: Die Geschichte mit der Kreativwirtschaft ist entstanden aus der Veröffentlichung von Richard Florida. Das Buch heißt nicht Kreativwirtschaft, sondern „Kreative Klasse“. Er beschreibt darin, dass es eine „kreative Klasse“ in immer mehr Industrien gibt. Zur „Kreativwirtschaft“ gehören seiner Sicht nach auch moderne Industrieunternehmen, die immer mehr kreative Leute brauchen, nicht nur Ingenieure und Professoren, sondern auch qualifizierte Facharbeiter. Diese Klasse hat andere Vorstellungen von Lebensqualität, andere Vorstellungen von Bürgerbeteiligung.
Michael Voregger: Für die Entwicklung des Ruhrgebiets ist eine demokratische Öffentlichkeit sehr wichtig. Die Region wird durch die Medien der Funke Gruppe und die WAZ dominiert. Warum verlieren die Lokalzeitungen so viele Leser und erfüllen ihre gesellschaftliche Aufgabe immer weniger?
Franz Lehner: Die WAZ ist für diese Region nicht nützlich – das muss man einfach sagen. Sie berichtet zu wenig, was in der Region wirklich passiert, und das gilt ganz besonders für den Wirtschaftsteil. Der ist ausgesprochen schwach und vermittelt jemandem, der die WAZ im Hotel beim Frühstück in die Hand bekommt, nicht den Eindruck, dass es eine tolle Region ist. Da stellt man sich wirklich die Frage, ob es in dieser Region wirtschaftlich nichts Wichtigeres als Telefontarife gibt. Man muss nicht eine halbe Seite schreiben, wie hoch die Dispozinsen der Banken sind. Wenn ich nur zwei Seiten Wirtschaftsteil habe, und dann geht der größte Teil für so etwas drauf, dann vermittele ich nach außen das Bild, dass da wirtschaftlich nichts los ist und es keine spannenden Firmen gibt. Ich erfahre hier sehr wenig über die Ruhrgebietswirtschaft. Die WAZ ist ein ganz bestimmtes Produkt geworden – eine Regionalzeitung für die Normalbürger. Die Menschen, die an Zeitung interessiert sind, wollen ein anderes Informationsniveau haben.
Michael Voregger: Wie zufrieden sind sie mit der Wirtschaftsförderung in der Region? Es gibt ja zum Beispiel den Trend der sogenannten „Systemgastronomie“. Damit sind zwar viele Arbeitsplätze verbunden, aber es sind keine hochwertigen Arbeitsplätze.
Franz Lehner: Ich halte das generell für den falschen Trend. Wir müssen Höherwertiges ansiedeln. Das dauert seine Zeit, und man braucht einen langen Atem. Dafür ist eine langfristige Strategie nötig, und die sehe ich in Gelsenkirchen, und auch in anderen Städten, nicht. Ich sehe auch nicht, dass man von Seiten der Wirtschaftsförderer systematisch Anstrengungen unternimmt, die einheimische Industrie zu einem starken Wachstumspol zu entwickeln. Es gibt tolle Programme der EU, mit denen man das machen könnte, aber ich sehe nicht, dass die Wirtschaftsförderung in diesen Sachen drin ist. Es wird immer geschaut, ein paar mehr Arbeitsplätze zu bekommen, und man macht ein paar Hochglanzbroschüren. Eine langfristige Strategie, harte Arbeit, um diese Stadt strukturell woanders hinzubekommen, das ist für mich nicht ersichtlich.
Das Interview ist auch in der aktuellen Ausgabe des Stadtmagazins isso erschienen.
Die Autoren Franz Lehner und Hans-Peter Noll sehen im Ruhrgebiet eine hohe Wandlungskompetenz und eine große Bereitschaft zu Experimenten. Allerdings werden Innovationen immer wieder durch Schönfärberei und Fortschrittsangst verhindert. Sie verstehen ihr Buch „Ruhr: Das Zukunftsprojekt“ als Anleitung für einen anderen Weg. Demnach kann die Region ihre strukturellen Probleme nur lösen, wenn das Ruhrgebiet eine Metropole des 21. Jahrhunderts wird. Diese Entwicklung ist ein anspruchsvolles Projekt und wird mehrere Dekaden benötigen. Dazu sind kreative Menschen und die Zusammenarbeit über Stadtgrenzen nötig. Die Stichworte sind Digitalisierung, Industrie 4.0, Recycling, Erneuerbare Energien, Urbane Landwirtschaft und eine nachhaltige Stadt- und Regionalentwicklung. Franz Lehner und Hans-Peter Noll fordern eine breite Zukunftsdebatte, mit der „ein Wandel zu einer Kultur des offenen, konstruktiven und kreativen Umgangs mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts angestoßen werden kann“.
Franz Lehner, Hans-Peter Noll
Ruhr: Das Zukunftsprojekt
Von der eingebildeten zur
wirklichen Metropole
erschienen am 21.04.2016
Klartextverlag
ISBN: 978-3-8375-0956-4
298 Seiten, Broschur, 19,95 €
[…] Das mit der Metropole Ruhr ist eventuell etwas hochgegriffen. So die Autoren von „Ruhr: Das Zukunftsprojekt – Von der eingebildeten zu wirklichen Metropole“ bei den Ruhrbaronen. […]