Witten: Flucht, Frauen und Spatzen

Lesung in Witten mit Dimitri Schwartz, Ulrike Masanke und Charlotte Lenger (v.l.n.r.) (Foto: Sebastian Bartoschek)

Gestern abend ging es in Witten um „Exilliteratur von Schriftstellerinnen im Spiegel des Nationalsozialismus“. Es war die 2. Lesung einer dreiteiligen Reihe, in der die beiden Schriftstellerinnen Lisa Fittko und Ilse Losa im Mittelpunkt standen, oder genauer, ein Blick darauf, wie sie Flucht lebten. Und da war ein Spatz.

Veranstalterin Charlotte Lenger konnte auf gut 40 Personen schauen, als sie am Lesetisch saß. Rechts von Lenger aus saßen Ulrike Masanke und Dimitri Schwartz, die das Lesen aus den Werken Fittkos und Losas übernahmen. Mit Blick auf das Alter war das Publikum gemischt, und spiegelte das Alterspektrum auf dem Podium Lesenden wieder (siehe Foto). Erkennbar kannten sich viele im Publikum, und dem Vernehmen nach kam die überwiegende Mehrheit aus Witten. Im Kern geht es, laut Lenger, bei der Lesereihe auch darum den „traditionell männlichen Kanon“ von Fluchtliteratur „aufzubrechen“. Ein Ansatz, der bisher gelingt, und das völlig unaufgeregt.

Den Anfang machte das Werk von Lisa Fittko, aber da ein Artikel kein Wikipedia-Artikel sein sollte, sei hier nur kurz erwähnt, dass diese knapp Anfang 30 war, als sie um 1940 begann, Menschen auf der Flucht aus Frankreich nach Spanien zu helfen. Masanke trug hier aus Fittkos „Mein Weg über die Pyrenäen“ vor. Hier, und im weiteren Verlauf des Abends, lieferte Lenger den historischen Rahmen und biografische Daten, und spielte zuerst auch einen Interviewfetzen mit Fittko ein.

Fittkos erste Fluchthilfe galt dabei dem Philosophen Walter Benjamin, und das Publikum ist erkennbar beeindruckt als Dimitri Schwartz die Sprechpassagen Benjamins übernimmt. Das liegt zum einen an Schwartz‘ Intonation, zum anderen aber auch dem Bericht selbst: Fittko hilft dem selbstdiszplinierten, höflichen, aber, so sagt sie, auch tollpatschigen Benjamin bei der Flucht. Der übersteht die Strapazen, tötet sich aber wenige Tage danach in Spanien selbst. Seine Auslieferung an die Deutschen drohte.

In den eindringlichen Bericht mischt sich immer wieder ein Geräusch, und seit Claas Relotius kann man sowas eigentlich nicht mehr so richtig in einem Artikel unterbringen. Aber es war nun einmal da. Ein Vogel sang. Also nicht wirklich, er zwitscherte. Bei Relotius würde nun noch aus einem Radio ein passendes Lied erklingen. In Witten gab es nur einmal ein klingelndes Handy, dessen Benutzer lauter als das Handy verkündete, dass er das Gerät erst seit einem halben Jahr habe. Doch zurück zu den Spatzen. Die hatten am Fenster, oder schon fast im Raum selbst, ihr Nest. Dankenswerterweise. Denn an der Stelle des Selbstmordes Benjamins konnte man zumindest dem Zwitschern etwas Tröstliches abgewinnen.

Danach ging es um Ilse Losa, eine nach Portugal Geflüchtete, die dort anfing zu schreiben, allerdings auf Portugiesisch, autobiografische Romane und Kinder- und Jugendliteratur. 1934 kam sie in Porto an und in ihrem Roman „Unter fremden Himmeln“ hielt sie Eindrücke ihrer Flucht fest. Das Bessere ist der Feind des Guten – um hier einen Glückskeksspruch einzuweben. Heisst: die Latte war durch Fittkos Bericht sehr hoch gelegt.

Mitnehmen konnte man aus Losas Text mit welchen Vorwürfen die deutschen Flüchtlingen in Portugal konfrontiert wurden: sie würden sich nicht anpassen, die Frauen trügen zu kurze Rücke, rauchten andauernd Zigaretten. Und alle seien viel zu gut gelaunt, es gebe Sorglosigkeit statt Jammern. Immerhin konnten man damals noch keine anklagenden Worte zu Handys finden.

Und dann war der Abend auch schon vorbei. Fast. Denn am Ende gab die erleichterte Veranstalterin noch den Tip, sich die Serie „Transatlantic“ auf Netflix anzusehen.

Der dritte und letzte Teil der Leseserie im Cafe Leye in Witten folgt am 25.9., und Lenger stellt in Aussicht, dass es dabei auch lokalhistorische Ausführungen zu Witten geben würde. Und wahrscheinlich werden auch die Relotius-Spatzen wieder vor Ort sein.

Dir gefällt vielleicht auch:

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Comments
Oldest
Newest
Inline Feedbacks
View all comments
Werbung