Der Nahe Osten ist in Deutschland vor allem eine gigantische Projektionsfläche. Da wird Bagdad schnell zu Stalingrad, Genozide finden statt und Orte sehen aus wie Dresden. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.
Größtenteils ist Reden über den Nahen Osten so ein Selbstgespräch der Landsleute in Dauerschleife, in dem deshalb auch die immer gleichen Phrasen seit Jahrzehnten auftauchen: Gewaltspirale, Flächenbrand und Eskalationsschraube, um nur ein paar zu nennen.
Notwendig dazu gehört jene „arabische Straße“ vor der deutsche Nahostkommentatoren – und experten unermüdlich seit Jahrzehnten warnen. Wenn die erst wütend wird, dann Gott bewahre. In Realität ist diese ominöse Straße im Nahen Osten so seit ebensovielen Jahrzehnten nie in Erscheinung getreten, weder beim Sturz Saddam Husseins 2003, noch beim Krieg Israels gegen die Hizbollah 2006 oder der Tötung Qasim Soleimanis. Sicher, das iranische Regime, Moqtada als Sadr in Bagdad oder die Muslimbrüder in Amman bekommen hin und wieder mal eine größere Demonstration organisiert, aber sehr viel mehr ist dann auch nicht. Jedenfalls nicht wenn’s gegen die Imperialisten und andere Bösewichter gehet. Anders natürlich sah und sieht es bei Massenprotesten gegen die eigenen Diktatoren und Autokraten aus, aber das ist dann nicht diese arabische Straße, von der so oft die Rede ist.
Wer die also sehen will, sollte nicht in den Nahen Osten blicken oder reisen, sondern am Jahrestag des Hamas-Pogroms, dem 7. 10., lieber nach Berlin (Anmerkung der Redaktion: Essen Münster, Frankfurt) kommen, denn da, ja da, gibt es sie, die wirkliche arabische Straße, so wie sie in feuchten Träumen nicht weniger Linker sonst nur existiert. Sogar mit Zwille, einem Gerät, das wiederum unter Palästinensern seit der 1. Intifada, also den später 80er Jahren keine Verwendung mehr findet.
Anders ausgedrückt: Das, wozu da Arbeiterinnenmacht, irgendwelche randständigen Kommunisten und selbsternannter Global South aufruft, hat mit Proletariat und Kommunismus in etwas so viel zu tun wie mit den Realitäten im Nahen Osten. Aber was macht das schon, wenn die Projektion so schön die eigenen Bedürfnisse, die vor allem aus Hass und Vernichtungswünschen bestehen, befriedigen?
Der Artikel erschien in ähnlicher Version bereits in der Jungle World