Das Menschen über Generationen an einem Ort leben ist eine Ausnahme. Bei fast allen von uns kann man das mit einem einfachen Blick in die Familiengeschichte erkennen. Nur drei Generationen zurück bis zu den Urgoßeltern – das Wissen um deren Geschichte ist in den meisten Familien noch vorhanden – und wir erkennen, dass wir selbst von Zugewanderten abstammen, wenn wir nicht schon selbst unseren Wohnort mehrfach gewechselt haben. Vielleicht sind Eure Vorfahren ja vom Land in die Stadt gewandert, von Pommern ins Ruhrgebiet oder von Nordhessen nach Frankfurt. Bei viele werden auch Wurzeln in der Türkei haben, in Griechenland oder Spanien. oder Wurzeln in Italien, Polen und Bayern. Wir sammeln diese Wanderungsgeschichten und veröffentlichen sie.
Migration ist nicht die Ausnahme, sie ist die Regel. Wir müssen uns alle nur daran erinnern. Helft uns dabei mit. Schickt Eure Geschichte – gerne mit Foto an info@ruhrbarone.de
In Ungarn ist das so üblich: direkt nach dem Mittagessen wird etwas Süßes gegessen; gern auch mal unmittelbar Sahnetorte. Immer, wenn ich etwas Herzhaftes gegessen habe, brauche ich brauche etwas Süßes. Meiner Mutter geht es genau so. Wir sind „hier“ geboren, in Deutschland. Genauer: in der ehemaligen DDR. Und genau genommen sind wir die Kinder und Enkel von Flüchtlingen.
Die Familie meiner Mutter waren sog. „Ungarndeutsche“. Sie waren Vertriebene, mehrfach. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Hunderttausende zwangs-umgesiedelt, landeten sie in irgendwelchen Auffanglagern. Sie wurden in der sowjetisch besetzten Zone verteilt, kamen als Katholiken in Gegenden, die alles andere als katholisch geprägt waren. Nicht selten wurden sie vollkommen Fremden zugewiesen, die die Vertriebenen unterbringen mussten. Sie wurden aufgenommen, aber nicht immer freundlich. Auffanglager, staatliche Zuteilungen, eine Zivilgesellschaft, die einspringt, weil der Staat versagt – und Menschen, die auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte nichts mehr haben, was sie „Zuhause“ nennen können (meine Großeltern sind bis zuletzt nach Ungarn in den „Urlaub“ gefahren). Erst jetzt, wo ich das aufschreibe, merke ich, wie stark die Parallelen sind.
Irgendwann haben meine Großeltern und Ur-Großeltern Berufe gefunden, Wohnungen, Häuser. Und wenn man den Menschen schon an seinem ökonomischen Wert messen will: sie hatten keine Schulden, sie hatten Erspartes auf der Bank. Sie waren immer arbeiten. Vor allem aber kann ich mich nicht daran erinnern, dass sie sich jemals beschwert hätten. Sie verstanden nicht viel von Politik oder der großen Welt, wollten das vielleicht auch nicht, aber Extremisten, rechts oder links, waren ihnen zuwider. Dass ich nicht zur Bundeswehr wollte, fand mein Urgroßvater gut.
Ich habe mit ihnen nie ordentlich über diese Zeit sprechen können. Sie starben, weil sie die Spätfolgen von Krieg, Verwundung, brutaler Armut und elendem Hunger auf der Flucht nie so richtig überwinden konnten – und ich war zu jung, um mich das Fragen zu trauen. Meine Urgroßeltern durften hier ein neues Leben beginnen. Drei Generationen später war ich der Erste aus meiner Familie, der studierte. Ich durfte mir meinen Beruf selbst raussuchen. Ich konnte detektor.fm mitgründen. Und ich habe nie Krieg erlebt. Und warum? Weil vor knapp 70 Jahren Vertriebene hier aufgenommen wurden.
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