Dass Menschen über Generationen an einem Ort leben, ist eine Ausnahme. Bei fast allen von uns kann man das mit einem einfachen Blick in die Familiengeschichte erkennen. Nur drei Generationen zurück bis zu den Urgoßeltern – das Wissen um deren Geschichte ist in den meisten Familien noch vorhanden – und wir erkennen, dass wir selbst von Zugewanderten abstammen, wenn wir nicht schon selbst unseren Wohnort mehrfach gewechselt haben. Vielleicht sind Eure Vorfahren ja vom Land in die Stadt gewandert, von Pommern ins Ruhrgebiet oder von Nordhessen nach Frankfurt. Bei viele werden auch Wurzeln in der Türkei haben, in Griechenland oder Spanien. oder Wurzeln in Italien, Polen und Bayern. Wir sammeln diese Wanderungsgeschichten und veröffentlichen sie.
Migration ist nicht die Ausnahme, sie ist die Regel. Wir müssen uns alle nur daran erinnern. Helft uns dabei mit. Schickt Eure Geschichte – gerne mit Foto an info@ruhrbarone.de
Mit dem Pappkoffer ins Ruhrgebiet
Ich bin das Ergebnis aus einer ehelichen Verbindung von Wirtschaftsflüchtlingen. In der Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts packten meine Altvorderen Ihre Pappkoffer und machten sich auf den Weg ins Ruhrgebiet – der besser bezahlten Arbeit wegen. Der väterliche Zweig verließ die preußisch-polnischen Äcker weit im Osten des Landes. Die Linie meiner Mutter, geb. Niski, hat ihren Ursprung in der Einsamkeit Masurens. Damals trugen alle christlichen Frauen (andere Konfessionen gab es auch noch nicht) noch bunte Kopftücher. Meine Großeltern, Jahrgänge 1904 bis 1911, waren schon Kinder des Potts. Aber auch diese Generation der Frauen trugen Kopftücher und dazu die berühmte Kittelschürze. Meine Großeltern sprachen auch das schönste Ruhrplatt, was ich in Erinnerung und gelernt habe. Natürlich arbeiteten die Männer „auffem Pütt“ und die Frauen „inne Fabrik“ – mit buntem Kopftuch – wegen der Sicherheit.
Meine Eltern machten es meinen Großeltern gleich. Vater wurde zum „Hauer“ ausgebildet und Mutter schaffte bei der Schraubenfabrik „Friedberg“ in Gelsenkirchen-Rotthausen. Das war für sie besonders praktisch, weil die Fabrikhalle auf der gegenüber liegenden Strassenseite ihres Elternhauses lag. Als ich im September 1957 in Essen-Steele zur Welt kam, erfuhr ich als Neuankömmling sofort, was das Ruhrgebiet ausmacht: Ich wurde mit ehrlicher Freude und großer Zuneigung empfangen. Zunächst von meinen Eltern. Später im Laufe meines Lebens von ganz vielen Menschen hier im Revier. Mein polnischer Name hat mir hier nie Schwierigkeiten bereitet. Warum auch? Ich schaue mit Zufriedenheit auf den Lauf meiner Familiengeschichte zurück. Ach ja – meine Mutter Hildegard legte das Kopftuch zu Beginn der 60er Jahre ab. Es war bei den deutschen, italienischen und spanischen Frauen aus der Mode gekommen. Aber das Kopftuch kam mit den Frauen der türkischen Gastarbeiter Anfang der 70er Jahre zurück. Heute sehe ich viele Frauen aus Syrien mit um den Kopf gebundenen Tüchern zu uns kommen. Ich gehe auf sie zu und rufe ihnen entgegen: „Willkommen im Ruhrgebiet“.
Franz Przechowski
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