Wodka, Speck und die Suche nach dem Russland der Eltern

Unbenannt-4Filipp Piatov kam als kleines Kind mit seinen Eltern Anfang der 90er Jahre aus Sankt Petersburg nach Deutschland. Über eine Reise zu seinen russischen Wurzeln hat er ein Buch geschrieben.

Obwohl in einer süddeutschen Kleinstadt aufgewachsen nahm Russland im Leben von Filipp Piatov immer einen großen Platz ein: Der Vater verzweifelte daran, dass der herbeigeredete sozialistische Mensch mit Gleichmut und Desinteresse zu sah, wie sein Land verfiel, die Oma, eine jüdische Partisanin, deren Familie von den Deutschen ermordet wurde, hatte sich, obwohl sie unter dem Antisemitismus in Russland zu leiden hatte, einen Studienplatz erkämpft und im System eingerichtet.

Russland war immer ein Thema bei den Piatovs. Die Vergangenheit wurde ebenso diskutiert wie alle Nachrichten, welche die Familie über Freunde oder die Medien erreichten: Die mafiösen 90er Jahre mit ihren Shootouts auf offener Straße, der Aufstieg Putins oder das Schicksal seinen Gegenspielers Michail Chodorkowski. Und dann war da noch die Sprache: Für Piatov war sie seit der Kindheit der Schlüssel zu einer Welt, die den anderen verborgen blieb: Russische Bücher, Zeichentrickfilme oder Musik waren für ihn prägend und wichtig.

Nur in Russland selbst, dem Land seiner Eltern und Großeltern war er nie. Sein Buch handelt von dieser Reise, die er gemeinsam mit seiner Freundin unternahm. Sie führte ihn von Berlin über Polen, Kaliningrad, Petersburg, Moskau und Nowosibirsk schließlich zum Baikal See, der nicht nur der älteste und tiefste Süßwassersee der Welt, sondern wohl auch einer der schönsten ist.

Piatovs Reise ist nicht nur eine Reise durch Russland, bei der er immer wieder die zum Teil triste, aber auch oft faszinierende und ihn selbst überraschende russische Wirklichkeit mit den Bildern abgleicht, die er sich selbst geschaffen hat, sondern auch eine Geschichte seiner Familie und seiner jüdischen Wurzeln.

Er trifft die neue, hippe russische Mittelschicht in Moskau, unterhält sich während seiner Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, bei der Wodka und Speck oft die einzigen geniessbaren Lebensmittel waren, mit einem Trunkenbold, der seinen wertvollsten Besitz, einen Teddybären namens Maria, nicht aus den Augen lässt, einen begeisterten Retro-Kommunisten und schließlich einen missionierenden Priester, der Alkohol und Geschlechtsverkehr zu schätzen weiß.

Und er erzählt die Geschichte seiner Familie, vor allem die seiner Großmutter. Seine Liebe zu ihr ist in jeder Zeile zu spüren. Es ist nicht nur eine Geschichte der Verfolgung, die Piatov aufschreibt. Es ist auch eine des Stolzes seines Großvaters, an der Eroberung Berlins teilgenommen zu haben, dem Überlebenswillen seiner ganzen Familie und dem Willen sich durchzukämpfen: Erst in der Sowjetunion, später dann in Deutschland.

Das Buch ist mit viel Herzblut geschrieben, es ist witzig, wo Humor angebracht ist und tragisch, wo es vom Leiden der Menschen berichtet, denen Piatov immer mit Neugier und Respekt begegnet, ohne sie zu romantisieren.

Filipp Piatov
Russland meschugge
dtv,  14,90 Euro

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