Viele fordern Solidarität mit Flüchtlingen. Echte Verteidiger der Freizügigkeit sind jedoch rar. Kein Wunder, Veränderung und menschliche Ambitionen gelten heute als problematisch. Von unserem Gastautor Kolja Zydatiss.
Gestern war Weltflüchtlingstag. In den (Sozialen) Medien entfaltete sich die Debatte entlang vorhersehbarer Fronten. Linke verwiesen auf das Sterben im Mittelmeer, die verheerenden Kriege im Nahen Osten, und betonten unsere moralische Pflicht, uns hilfsbereit und solidarisch zu zeigen. Rechte geißelten Willkommenskultur und „Asylindustrie“ und warnten vor neuen Terroranschlägen.
Was auffällt: Selbst Linke, Liberale und Politiker der Mitte, die sich gerne kopfschüttelnd vom Rechtspopulismus à la AfD oder Pegida distanzieren, schaffen es nicht, sich von einem Denken zu lösen, das Einwanderung primär als Last begreift. Vor einigen Tagen etwa warnte der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CDU) vor einer Massenmigration von 100 Millionen Menschen nach Europa, falls die Erderwärmung nicht begrenzt werde. Ähnlich äußerte sich zum Weltflüchtlingstag auch ein Kampagnenleiter von Greenpeace Deutschland bei Twitter. Das Social Media Team des Auswärtigen Amtes verkündete stolz, dass Deutschland einer der größten Geber von Entwicklungshilfe weltweit sei. Ob Linkspartei oder FDP, ständig wird betont, man müsse „die Fluchtursachen bekämpfen“.
Nun ist es erst einmal eine gute Sache, wenn im Westen das Bewusstsein dafür wächst, dass die Bewohner von Entwicklungsländern keine naturverbundenen edlen Wilden sind, die sich ein von Globalisierung und industrieller Produktion abgeschirmtes bäuerliches Leben wünschen. Auch in Europa ist eine ernsthafte Debatte darüber wünschenswert, wie die sogenannte Dritte Welt durch Wachstum und Fortschritt zur Ersten aufschließen kann. Dennoch: Der ängstliche Unterton in der Migrationsdebatte, selbst unter Befürwortern von Merkels Flüchtlingsaufnahmepolitik, ist schwer zu übersehen. Humanitäre Gesten, schön und gut. Wir sind ja keine Rechten. Gleichzeitig müssen wir aber höllisch aufpassen, dass es nicht zu viel wird, dass wir nicht „überfordert“ werden.
Dieses Denken ist kein Ausdruck eines verbreiteten expliziten oder latenten Rassismus. Es ist bloß ein Symptom der allgemeinen pessimistischen Grundstimmung in westlichen Gesellschaften. Unter dem Einfluss kaum noch kritisch hinterfragter ökologistischer Glaubenssätze, vor allem den „Grenzen des Wachstums“, haben wir nur noch geringes Vertrauen in unsere Fähigkeit, durch technologischen Fortschritt und ökonomische Aktivität größeren Wohlstand zu schaffen.
Der wachstumsskeptische, ergrünte Zeitgeist sieht in Menschen vor allem Verbraucher natürlicher Ressourcen, und keine produktiven Gestalter. Kein Wunder also, wenn viele Menschen Migranten als Belastung und persönliche Bedrohung betrachten, als zusätzliche Mäuler, die mit einem immer kleiner werdenden Kuchen gestopft werden müssen. Dabei gibt ein Blick auf die Geschichte wenig Grund zur Sorge. Nach dem Krieg lebten in Deutschland 65 Millionen Menschen, und sie waren sehr viel ärmer als die heutigen 82 Millionen. Warum sollten es nicht in Zukunft 100 Millionen oder 150 Millionen sein, die in noch größerem Wohlstand leben? Wer dies für unmöglich hält, sollte bedenken, dass die Weltbevölkerung seit dem Jahr 1900 von 1,6 Milliarden auf 7,5 Milliarden Menschen gewachsen ist, während sich das globale Bruttosozialprodukt verfünfzehntfachte.
Globale Migrationsbewegungen sind nichts Neues. Seit tausenden, ja millionen, von Jahren ziehen Menschen dort hin, wo sie für sich persönliche und wirtschaftliche Perspektiven sehen. Die meisten Menschen akzeptieren, dass der freie Handel mit Waren unseren Wohlstand erhöht hat. Bei der Migration kommen ähnliche Mechanismen zum Tragen. Menschen gehen dorthin, wo sie gebraucht werden. Sie übernehmen Jobs in Branchen, die nicht genügend Arbeitskräfte finden, oder entwickeln durch Versuch und Irrtum neue, wirtschaftliche tragbare, Geschäftsideen. Verschiedene Menschen, Sichtweisen und Kulturen prallen aufeinander. Es entstehen neue Berufszweige, Stadtteile, ja ganze Staaten, die von der Einwanderung geprägt sind, und die oft, wie die USA, zu den wohlhabendsten und innovativsten der Erde gehören.
Doch es geht nicht nur um ökonomische Aspekte. Wer an die Freiheit glaubt, sollte offene Grenzen als Wert an sich verteidigen. In der Einwanderungsdebatte wird oft ziemlich willkürlich zwischen schützenswerten Kriegsflüchtlingen und unerwünschten Wirtschaftsmigranten unterschieden, als ob das Leben unter einer islamistischen Miliz unzumutbar, das Leben in einer mazedonischen Kleinstadt mit 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit jedoch vollkommen erträglich sei. Aber nicht nur ökonomische, sondern auch vermeintlich banale persönliche Motive können ein legitimer Auswanderungsgrund sein, etwa der Wunsch, in einer bestimmten Klimazone oder Landschaft (Meer, Gebirge) zu leben.
Leider ranken sich um das Konzept „offene Grenzen“ viele Missverständnisse. Wie Kalle Kappner bereits bei Novo schrieb, bedeuten „offene Grenzen“ im Wesentlichen Niederlassungsfreiheit ohne staatliche Diskriminierung. Das heißt, dass Menschen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit jeden Ort der Erde zu ihrem Lebensmittelpunkt machen können, dort einer Arbeit nachgehen und Eigentum erwerben können. Es bedeutet nicht zwangsläufig „Einwanderung in die Sozialsysteme“. Mit der Niederlassungsfreiheit muss kein Anspruch auf Sozialleistungen verknüpft sein. Solche Ansprüche könnten erst nach einigen Jahren, gerne auch schrittweise, Einwanderern gewährt werden, die gezeigt haben, dass sie sie motiviert und fähig sind, sich sozial und wirtschaftlich in ihre neue Heimat zu integrieren. „Offene Grenzen“ bedeuten auch nicht, dass wichtige und sinnvolle Funktionen von Grenzen abgeschafft werden. Es wäre zum Beispiel weiterhin möglich, am Grenzübergang Kontrollen durchzuführen, um Terroristen oder Kriminelle fernzuhalten.
Eine Utopie? Nein – historische Realität. Großbritannien hatte bis 1962 offene Grenzen zum gesamten Commonwealth (also zu Riesenstaaten wie Indien, Pakistan und Nigeria), die USA zu Mexiko für einen Großteil des 20. Jahrhunderts. Spanien hatte eine offene Grenze zu Nordafrika, die vor allem von Saisonarbeitern genutzt wurde. Sie wurde 1991 als Bedingung des EU-Beitritts geschlossen. In diesem Jahr wurden auch die ersten ertrunkenen Bootsflüchtlinge an den spanischen Küsten angeschwemmt. Viele Saisonarbeiter entschieden sich, dauerhaft (illegal) in Spanien zu bleiben. Wie der britische Publizist Kenan Malik bei Novo schreibt, schuf erst die Grenzschließung viele der Probleme, die sie vermeintlich lösen sollte.
Die derzeitige Grenzpolitik der sich gerne kosmopolitisch gebenden EU ist also zutiefst inhuman und kontraproduktiv. Kontraproduktiv ist aber auch die Einstellung und Vorgehensweise vieler eher links-tickender Einwanderungsfreunde. Egal ob es ihnen um ein milderes Asylrecht oder (was, wie gesagt, viel seltener ist) eine grundsätzliche Verteidigung der Freizügigkeit geht: Meist steht nicht das Streben der Migranten nach einem besseren, freieren Leben im Mittelpunkt, sondern die aufnehmende Gesellschaft. Sie soll „bunter“ und „vielfältiger“ werden, die vermeintlich überholte Identifikation der einheimischen Bevölkerung mit Nationalstaat und Landeskultur gebrochen werden.
Ein interessanter Artikel.
Nur lässt sich das Thema "Sozialsystem" aus meiner Sicht nicht so einfach betrachten. Wer hier dauerhaft lebt, muss gleich behandelt werden. Das ist unser System. Das werden Gerichte so durchsetzen.
Sonst klingt es natürlich super, wenn man die Möglichkeit hätte, überall in dem System der Wahl zu leben.
Bei den Sozialsystemen sehe ich es wie bei jeder Versicherung. Wer übermäßig viele Risiken aufnimmt/hat, wird Leistungen reduzieren müssen oder Preise erhöhen
Bzgl. der Bevölkerung:
Wir haben schon eine hohe Einwohnerdichte.
Die Automatisierung wird weiter voran gehen. Die großen Vordenken sehen hier nur das bedingungslose Grundeinkommen als Lösung.
Für uns wird die Entwicklung in Afrika, dem Nahen Osten vorerst entscheidend sein. Hier ist es einfach nicht nachvollziehbar, dass es die dortige wirtschaftliche Entwicklung nur so langsam voranschreitet.
Vielleicht ist die Reduktion eine Einschränkung des CO2 eine Einschränkung der Lebensqualität, aber aktuell gegeben.
„Zu den insgesamt 15 Technologien bzw. Maßnahmen, die Pacala und Socolow in ihrer Studie nannten, gehören unter anderem diese:
Senkung des Benzinverbrauchs – Ein Keil würde erreicht, wenn bei zwei Milliarden Pkw der Verbrauch von 7,6 Litern Benzin auf 3,8 Litern je hundert Kilometer halbiert würde (bei unveränderter Fahrleistung). Angesichts der aktuellen technischen Fortschritte bei Hybrid- und elektrischen Fahrzeugen ist dies ein sehr realistischer Keil.
Reduzierung der Fahrleistung – Selbst mit dem heutigen Kraftstoffverbrauch würde bei zwei Milliarden Autos, die für Mitte des Jahrhunderts erwartet werden, ein Keil erreicht, wenn die durchschnittliche Fahrleistung von heute 16.000 auf 8.000 Kilometer pro Jahr halbiert würde.
Energieeffizientere Gebäude – Würden bekannte, bereits etablierte Methoden für energieeffiziente Heizung, Kühlung, Wassererwärmung und Beleuchtung in Wohn- und Gewerbegebäuden (Wärmedämmung, Heizen mit Sonnen- oder Erdwärme, LED-Beleuchtung etc. pp.) konsequent eingesetzt, wäre ein weiterer Keil erreicht.
Ausbau der Windkraft – Für einen Keil wäre die Installation von Anlagen mit etwa 2.000 Gigawatt (GWp) Leistung erforderlich, das entspräche 400.000 Fünf-MW-Anlagen oder gut einer Verfünffachung der globalen Kapazität des Jahres 2014. Angesichts des bisherigen Ausbautempos ein sehr realistisches Szenario, allein zwischen 2003 und 2014 hatte sich die weltweite Windkraftkapazität von 39 auf 370 GW fast verzehnfacht.
Ausbau der Photovoltaik – Ein weiterer Keil ergäbe sich, wenn Photovoltaik-Anlagen mit einer Kapazität von 2.000 GWp installiert werden (und dadurch Kohlestrom ersetzt würde), das wäre gut das Zehnfache der weltweit installierten Leistung von 2014. Bei politischer Förderung und angesichts der exponentiellen Wachstumsraten der Vergangenheit dürfte auch dieser Keil mehr als realistisch sein. Seit den 1990er Jahren hat sich die weltweite Kapazität etwa alle zweieinhalb Jahre verdoppelt.
Erdgas statt Kohle – Ein Keil wäre erreicht, wenn 1400 konventionelle Kohlekraftwerke (mit je 1.000 Megawatt Kapazität) durch Gaskraftwerke ersetzt würden.
Erhöhung des Wirkungsgrades konventioneller Kohlekraftwerke – Ein weiterer Keil würde erreicht, wenn in 50 Jahren das Doppelte des heute aus Kohle produzierten Stroms nicht in Anlagen mit 40-prozentigem Wirkungsgrad erzeugt würde, sondern mit 60-prozentigem (momentan liegt der durchschnittliche Wirkungsgrad von Kohlegroßkraftwerken deutlich unter 40 Prozent).
CCS-Kraftwerke – Ein Keil würde erreicht, wenn bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts in 800 Kohle- oder 1.600 Gaskraftwerken (mit je 1.000 Megawatt Kapazität) Vorrichtungen zur Abscheidung und unterirdischen Verpressung von Kohlendioxid installiert wären.
Regenwaldschutz und klimaschonende Bewirtschaftung von Wäldern in der gemäßigten und tropischen Zone – Mindestens ein halber Keil würde erreicht, wenn die Abholzung primärer Regenwälder gestoppt würde. Die zweite Hälfte käme hinzu, wenn etwa 250 Millionen Hektar Tropenwald oder 400 Millionen Hektar Wald in gemäßigten Gebieten aufgeforstet werden könnten. (Die aktuellen Waldgebiete in den Tropen bedecken eine Fläche von 1.500 Millionen Hektar, die in der gemäßigten Zone 700 Millionen Hektar; zum Vergleich: die Europäische Union hat eine Fläche von rund 440 Millionen Hektar).
Bodenschonende Landwirtschaft – Der konventionelle Ackerbau verursacht große Mengen an Treibhausgasen, unter anderem, weil häufiges Pflügen den Boden belüftet und so die Zersetzung organischer Stoffe beschleunigt. Ein halber bis ein ganzer Keil könnte durch eine weltweite Etablierung der pfluglosen Landwirtschaft (engl. conservation tillage) erreicht werden.
Wie gesagt, dies sind lediglich Beispiele der von Pacala/Socolow genannten Maßnahmen. Zudem betonten die Autoren, dass über ihre 15 Keile hinaus weitere denkbar sind. Beispielsweise ließ die Studie solarthermische Kraftwerke und etliche andere erneuerbare Energie-Technologien völlig außer acht, ebenso Emissionsminderungen in der Industrie durch verbesserte Energieeffizienz, veränderte Produktionsprozesse und Produkte oder auch mögliche Emissionsminderungen durch eine gründliche Umgestaltung der Abfallwirtschaft oder veränderte Ernährungsgewohnheiten.“
https://www.ruhrbarone.de/wohlstand-ohne-grenzen/144008
> kaum noch kritisch hinterfragter ökologistischer Glaubenssätze,
> vor allem den „Grenzen des Wachstums“,
>
Weiter braucht man gar nicht lesen, weil "Anyone who believes
exponential growth can go on forever in a finite world is either
a madman or an economist." – Kenneth Boulding