Ein mit knapp 700 Seiten schwergewichtiges, aber stets kurzweiliges Werk über einen wirklichen, produktiven Unruhestifter: Der 1945 geborene und vor knapp vier Jahren verstorbene linke, „antideutsche“ Publizist Wolfgang Pohrt. In zwölf Oberkapiteln erzählt Klaus Bittermann, der als Verleger und Freund über Jahrzehnte Pohrts schwierigen Lebensweg miterlebte, dessen Leben und Schreiben nach. Von unserem Gastautor Roland Kaufhold.
Gleich im Vorwort – „Denken in Zeiten pathischer Normalität“- streicht Bittermann die Besonderheit, die radikale Eigenheit von Pohrts polemisch-kämpferischen Schriften und Büchern hervor: Pohrt habe seine Analysen stets mit „Schärfe, Klugheit und Eleganz“ (S. 9) vertreten, habe in einer Mischung aus Witz und Sarkasmus eine „Überzeugungskraft“ entfaltet. Diese richtete sich über Jahrzehnte jedoch vor allem gegen die „eigene“ linke Szene. Ihr wollte der fleißige Konkret-Schreiber Pohrt bald nicht mehr angehören. Und er ließ in eindrücklicher Unnachgiebigkeit und Kompromisslosigkeit nicht davon ab, die eigene „Szene“ einer scharfen Analyse und Kritik zu unterziehen. Dies bezeichnete er als „Ideologiekritik“. Anfangs bezog Pohrt sich auch auf psychoanalytische Ansätze, wendete diese jedoch eher nicht auf sein eigenes Handeln und seine eigenen Motive an. Er griff Adornos unter dem Eindruck des Nationalsozialismus geprägtes Diktum von der Psychopathologie auf, die nach der Nazizeit zum Normalzustand geworden sei. Später sollte Pohrt, der anfangs noch RAF-Positionen insofern verteidigte, als er deren Vertreter nicht aus dem linken Diskurs ausschließen wollte[i], seine scharfe Kritik ab den 1980er Jahren gegen die Grünen und die „Friedensbewegung“ richten. Später wendete er seine Ideologiekritik auch auf Hausbesetzer, am Ende sogar gegen gewisse Vertreter der Antisemitismuskritik an. Da war er der Sache müde und hatte eigentlich keine Lust mehr auf lebensfremde, Depressionen eher befördernde „Ideologiekritik“.
„Rebellion der Heinzelmännchen“
Wolfgang Pohrt verfügte über das Talent, sich fortgesetzt gerade auch bei Freunden – oder die ihn dafür hielten – unbeliebt zu machen. Dies sah er wohl als integralen Teil seiner Agenda an. Autonome Häuser und teils auch besetzte Häuser gelten teilweise als Zentrum antideutscher Bewegungen. 1982 hielt Pohrt einen Vortrag in einem besetzten Haus. Zwei Jahre zuvor waren die Grünen gegründet worden, 1982 trat Joschka Fischer den Grünen bei, ein Jahr später gelang ihnen der Einzug in den Bundestag. In seinem mit „Rebellion der Heinzelmännchen“ betitelten Vortrag versuchte er, seine Rolle als Ideologiekritiker zu beschreiben. Dies dürfte eher nicht im Zentrum des Interesses der handlungsorientierten Hausbesetzer gelegen haben: „Ich habe weder an dieser Bewegung teilgenommen, noch habe ich sie erforscht oder gründlich studiert“ (S.14) teilte er seinen linken Einladern gleich zu Anfang mit. Er besitze keine Dossiers über Hausbesetzungen, habe hierzu auch nicht recherchiert. Und auch deshalb habe man ihm vorgeworfen, führte Pohrt aus, „die Friedensbewegung, die Alternativen, die Grünen und die Hausbesetzer leichtfertig, gewissenlos und verantwortungslos zu verleumden.“ (S. 14f.) Diese Annahme seijedoch Ausdruck eines grundlegenden Missverständnisses: Man trage keine Verantwortung, wenn man sich Gedanken mache oder eine „begründet abweichende Meinung“ äußere. Sein Job sei der des Ideologiekritikers, das mache den Kern seiner unerbittlichen publizistischen Tätigkeit aus.
Gefühlskalter Egomane?
Wenn Pohrts Kritiker – von denen es Zahllose gab – in seinen eloquenten, sarkastischen, scharfsinnigen Kommentaren Hass oder Selbsthass aufspüren, ihn gar für einen gefühlskalten Egomanen wahrnehmen würden, so sei dies ein Missverständnis. Seine Texte und Interventionen seien seiner Weigerung geschuldet, „still dazusitzen, wenn wie in Rostock-Lichtenhagen Ausländer attackiert werden, ohne dass staatliche Organe eingriffen.“ (S. 17)
Hier verwies Pohrt doch einmal in direkter Weise auf seine eigenen Emotionen, seine eigene Empörung.
Andere, wie etwa der jüdische Überlebende und Publizist Ralph Giordano, dies sei hier nachgetragen, wählten in einer vergleichbaren Situation einen anderen, nicht weniger radikalen Weg: Giordano verfasste nach Mölln und Rostock seinen berühmten öffentlichen Brief an Kanzler Kohl (vgl. Giordano 1993), in dem er ankündigte, dass ab diesem Zeitpunkt er und einige weitere jüdische Freunde nun Vorbereitungen für eine notfalls bewaffnete Gegenwehr ergriffen hätten. Ein Jahr später fügte Giordano die von ihm entfachten Kontroversen in seinem Buch „Wird Deutschland wieder gefährlich?“ zusammen (vgl. Kaufhold 2013a, b; vgl. Finkelgruen & Kaufhold 2022).
Vaterlos – Riga, Estland, Sachsen, Bad Krozingen, Freiburg…
Methodisch ist die Pohrt – Biografie zeitlich chronologisch angeordnet. Diesem Weg möchte ich folgen. Schrittweise, teils eruptiv tritt hierbei der unerbittliche, streitbare, polemische Publizist hervor, der wie wohl nur Wenige innerhalb der Linken heftigste Auseinandersetzungen und Zerwürfnisse auslöste.
Pohrt wurde am 5. Mai 1945 in Torgau, Sachsen geboren; zehn Tage zuvor hatten sich dort amerikanische und russische Truppen getroffen. Seine Mutter Roswitha Bong, eine Deutsche, wurde 1909 in Riga geboren; deutsch war dort bis 1891 noch Amtssprache. Nach dem Abitur zog sie nach Estland, landete dann in Berlin, wo sie 1931 den aus Estland gebürtigen Ingenieur Gert Uno Pohrt heiratete. Am 9.4.1933 wurde Pohrts Halbschwester in Berlin-Schöneberg geboren, 1942 ließen die Eltern sich scheiden. Als Wolfgang Pohrt im Mai 1945, zwölf Jahre nach seiner Halbschwester, geboren wurde lehnte sein Vater die Vaterschaft ab und sollte seinen Sohn niemals sehen. Seine Mutter zog mit den beiden Kindern nach Dommitzsch, eine – so Bittermann – „öde Landschaft westlich der Elbe.“ (S. 28). 1950 ging es weiter nach Bad Krozingen, wo Pohrt von 1952 – 1956 die Grundschule besuchte. Pohrt und seine Familie fühlten sich aus Ausgestoßene, sie wurden oft als Zigeunerpack oder auch als Polacken beschimpft, was er 1984 in seinem Beitrag „Heimat“ aussprechen sollte. Das setzte sich fort, als er 1962 auf das Freiburger Rotteckgymnasium wechselte. Als Kind einer „unehelichen Mutter“ blieb er sozial geächtet. Ressentiments, Verachtung spürte er früh und intensiv. Für Bittermann bildete diese Erfahrung eine günstige, wenn auch schmerzhafte Grundlage, um gesellschaftliche Ressentiments und Ausschließungsprozesse zu verstehen.
Seine frühen Erfahrungen hätten Pohrt zugleich davor geschützt, so Bittermann, sich „Illusionen über die Deutschen“ (S. 33) zu machen – oder gar, später, auf die törichte Idee zu kommen, mit diesen Deutschen eine Revolution zu machen. Deren Motive, sich mit der Vergangenheit und der damit einhergehenden Kränkungen des hehren deutschen Selbstwertgefühles und Selbstbildes auseinander zu setzen, sollte in den Jahrzehnten danach im Fokus von Wolfgang Pohrts Schriften stehen.
Scham und Nicht-Zugehörigkeit
Wolfgang Pohrt las als Jugendlicher viel, vor allem Groschenhefte und Abenteuerbücher. Literatur sollte spannend sein, unmittelbar zum wilden Leben führen, interpretiert Bittermann. Großbürgerliche Lebensvorstellungen und Lebenssphären waren dem in Armut und Benachteiligung aufgewachsenen Jungen unangenehm, zugleich jedoch auch beschämend.
1964 dann die Flucht: Der 19-Jährige, der kurz vor dem Abi stand und dieses „aus sehr privaten Gründen“ – wie er es selbst formuliert (S. 38) – abbrach zog stattdessen nach Berlin und arbeitete dort auf dem Bau. Ein Auf- und Ausbruch in die Metropole. Dort war was los, erhoffte er sich wohl.
1964 Berlin: Aufbruch aus dem ungelebten Leben
Wolfgang Pohrt blieb innerlich zerrissen, spürte in sich und um sich das „ungelebte Leben“, das hinzunehmen er nicht bereit war. Die kurzen Ausflüge in die proletarische Arbeitswelt verhießen auch kein besseres Leben. Er holte, mit schlechten Noten, das Abi „für Schulfremde“ nach, schrieb sich an der Berliner Uni für Soziologie und den Nebenfächern Psychologie, Politik, Germanistik und VWL ein. Eigentlich die ideale Basis, um wenig später, 1968, zum Revolutionär oder aber zum doktrinären K-Grüppler zu werden.
Anfangs war ihm, dem proletarischen Jungen, die Soziologie und deren seltsame Sprache eher fremd, eher nicht anturnend. Antworten auf die Fragen des Lebens und Begreifens vermochte diese ihm eher nicht zu geben: „Ich verstand alles und nichts, weil ich viele Vokabeln gar nicht kannte und nur aus dem Zusammenhang auf ihre Bedeutung schließen sollte“, erinnerte er sich später. „Die Fremdwörter schrieb ich auf.“ (S. 43) Aber zugleich hatte er doch das größte Glück der Welt: Er findet zu seiner großen Liebe, der 16-jährigen Maria. 1967 dann zieht er nach Frankfurt, besucht bei Adorno ein Seminar zur Autoritären Persönlichkeit. Das erlebt er jedoch als „herbste Enttäuschung“ (S. 44), wie er 1989 an (seinen späteren finanziellen Förderer) Jan Philipp Reemtsma schreiben sollte. Adornos Seminarsprache sei, im Gegensatz zu dessen Schriften, „goldrichtig irgendwie, ebenso fleißig wie bemüht, alles so ewig schon bescheidwisserisch hingebimst, daß man´s nicht mehr hören mag, vergeistigt auf diese penetrante Art“, notierte er (S. 45).
Knallharte, egomanische Frankfurter Szene – und Spaß an der Revolte
Ausführlicher wird von Bittermann die Atmosphäre von 1968 und einige ihrer Epigonen beschrieben, insbesondere der früh und unglücklich verstorbene Hans-Jürgen Krahl. Pohrt selbst scheint keine zentrale Rolle in dieser seltsamen egomanischen Szene angestrebt zu haben. Später sollte er schreiben dass er sich abgestoßen gefühlt habe „vom knallharten Geschäft, in der Frankfurter Szene einen der heiß umkämpften Sitzplätze zu erobern.“ (S. 63) Seine bildungsferne Herkunft dürfte eine Rolle hierbei gespielt haben, aber vor allem die mangelnde Entschlossenheit, sich an diesem Spiel des linken Narzissmus und der bedingungslosen Macht beteiligen zu wollen, also „all diese ärgerlichen Dinge, die ich keineswegs vergessen habe“ (S. 63). Diese innere Abneigung gegen die „Abstoßungsmechanismen“ (S. 63) hinderte ihn jedoch nicht daran, „die Revolte richtig zu finden und bei Aktionen zu unterstützen…“, sollte er sich später schreibend erinnern (S. 63). Innerlich machte ihm die „Revolte“ dennoch Spaß, dies wollte er sich auch nicht im Nachhinein ausreden lassen.
Gewalterfahrungen und Distanzierungsverweigerungen
Auch Pohrt geriet bei den zahlreichen, teils gewaltsamen Auseinandersetzungen jener Jahre in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei: Auf einem Zeitungsfoto der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1969 ist Pohrt zu sehen, der anonymisiert als einer der „Rädelsführer“ bezeichnet wird, die von der Polizei festgenommen wurden. Pohrt besorgte sich vom Fotografen weitere Fotos seiner Festnahme, auf denen dokumentiert wird, wie Pohrt von der Polizei verprügelt wurde. Die Gewalterfahrung war für den 24-Jährigen so bedeutsam, dass er sie in seinen Unterlagen verwahrte.
Er fühlte sich dem damaligen Zeitgeist zugehörig. Distanzierungsbedürfnisse und –Erwartungen verweigerte er sich innerlich. So lehnte er später in seinen Texten auch Distanzierungen von der Praxis des Terrors und der brutalen Gewalt, wie sie die RAF praktizierte, ab.
In der ausgezeichnet geschriebenen, aber wegen ihrer Materialienfülle nicht immer leicht zu lesenden Werkbiografie Bittermanns werden immer wieder wichtige Grundlagentexte von Pohrt materialgesättigt eingearbeitet. Also Texte, die seinerzeit zwar größtenteils verstreut irgendwo erschienen, aber erst Jahrzehnte später durch Wiederabdrucke in den zahlreichen Büchern Pohrts wirklich greifbar wurden. Immer wieder ist das Motiv der Selbstvergewisserung Pohrts spürbar, aber auch der Versuch, bereits vergessene Lebensgefühle schreibend in Erinnerung zu rufen. Etwa seine 1972 verfasste marxistische Studie „Arbeiter und Kleinbürger“, welche zwei Jahre später unter einem Pseudonym in der Frankfurter Studentenzeitung erschien. Diese wurde erst 27 Jahre später, 2011, von Pohrt in seinem Band „Kapitalismus Forever“ unter seinem eigenen Namen publiziert.
Pohrt, der 1974 eine Assistentenstelle im pädagogischen Lehrstuhl in Lüneburg antrat, musste befürchten, für solche Texte unter Willy Brandts Radikalenerlass zu fallen.
Sorge, im Wissenschaftsbetrieb zu versauern
Pohrts ökonomische Existenz war über Jahrzehnte häufig prekär. Er verweigerte die Möglichkeit, die akademische Karriere mit den ihr innewohnenden Regeln und Auswahlverfahren zu durchlaufen um eine feste Professur zu erlangen. Sein Leben war hierdurch durchgängig schwierig, widerspruchsreich. Inwieweit diese „Verweigerung“ vor dem Hintergrund seiner kleinbürgerlichen Herkunft zu verstehen ist bleibt im Buch weitgehend ungeklärt, auch wenn Bittermann immer wieder darüber schrieb. Auf jeden Fall hätte der Intellektuelle Pohrt jede Chance auf eine feste Stelle an der Uni gehabt.
Vermutlich war Pohrt aber zu „Kompromissen“ generell nicht bereit und wohl auch seelisch nicht fähig. Immer wieder und bereits sehr früh schrieb er über den „Verrat“, den aus seiner Sicht viele ehemalige „Mitkämpfer“ begingen, indem sie sich den Grünen – und in einigen Fällen auch den Rechten – anschlossen und so Realpolitik betrieben. Die Frankfurter Joschka Fischer und Dany Cohn-Bendit seien exemplarisch genannt. Er nahm dies als eine „Neigung zum Verrat an den Idealen“ (S. 85) wahr, die er in den Jahrzehnten danach genussvoll und stilistisch stilsicher analysierte und zerlegte.
Bittermann interpretiert Pohrts Absage an eine Unikarriere als dessen Sorge, „im Wissenschaftsbetrieb zu versauern.“ (S. 88) Er war noch nicht einmal bereit, die einfachsten Unterlagen seiner schreibenden Tätigkeit zusammen zu stellen, um sich für eine Stelle als Hochschullehrer zu bewerben. Solche „Zumutungen“ tat er als unredliche, seiner unwürdigen Belästigungen ab – was einen psychologisch schon erschüttern könnte. Seine eigene Rolle sah er als die eines öffentlichkeitswirksamen Publizisten, der eine radikale Gesellschaftskritik betrieb.
An der Uni Lüneburg lehrte auch Eike Geisel (wie auch der Philosoph und psychoanalytisch Interessierte Christoph Türcke). Der gleichfalls 1945 geborene Geisel sollte der wohl wichtigste intellektuelle Wegbegleiter Pohrts werden. Gemeinsam galten sie als die Hauptvertreter der „Antideutschen“ – was immer man heute unter diesem Begriff verstehen mag. Und mit der heute 77.000 Einwohner zählenden Unistadt Lüneburg spiegelt sich zugleich Wolfgang Pohrts wohl lebenslange Ambivalenz wieder, wo er denn leben und wie er seinen Wohnort mit seinen intellektuellen linken Interventionen vereinbaren sollte: Er war sich des privilegierten Charakters seiner Position an der Uni bewusst; zugleich schien diese finanziell vorteilhafte Uniposition an ihm – wie es Bittermann formuliert – zu „nagen“ (S. 89). Beide wohnten auch nicht in der universitären Kleinstadt Lüneburg sondern versuchten, die Lehrveranstaltungen dort möglichst effektiv zu erledigen. Lüneburg wieder zu verlassen war eine große Freude.
„Kulturimperialismus“ als antisemitischer, national begründeter Neid
1972 legte Wolfgang Pohrt seine, noch im engen Sinne marxistisch orientierte, Promotion vor, in der bereits seine Bereitschaft zur Selbstironie und vor allem zur Ironisierung seiner linken Freunde wie auch – später – seiner eigenen früheren linken Positionen durchschimmert. So amüsierte er sich in den 1980er Jahren über den Begriff des „Kulturimperialismus“ – dessen heutiges Pendant vermutlich der seltsame Begriff der „kulturellen Aneignung“ bildet – , dessen antisemitische Vereinnahmung für ihn offenkundig war. Wohl auch um seine ehemaligen linken Freunde ausgeprägt zu verärgern deutete Pohrt diesen Begriff als eine Form des „national begründeten Neides“ (S. 95) – dass die Deutschen halt unfähig gewesen seien, vergleichbar bedeutende Filme wie die Amerikaner hervor zu bringen. Für ihn waren dies pseudolinke Slogans, die das antisemitische und antiamerikanische Ressentiments der Zerfallsprodukte der Linken der 70er- und 80er Jahre offenkundig machten. Die lechts-rinke Salonbolschewistin und DDR-Nostalgikerin Sarah Wagenknecht zeigt heute, dass solche Analysen weiterhin eine Sinnhaftigkeit und Überzeugungskraft haben. „Wolfgang Pohrt lesen!“ kann man da nur rufen…
Als Pohrt Jahrzehnte später seine frühe Studie zum „Gebrauchswert“ noch einmal in Buchform neu auflegte strich er, so legt Bittermann dar (S. 99), bewusst einige polemische Stellen, um den theoretischen Gehalt seiner Studie nicht zu sehr zu verwässern.
Ohnmacht, Apathie und Wahn
Lesenswert sind Pohrts Ausführungen aus den 1970er Jahren über „Ohnmacht, Apathie und Wahn“ (S. 101-105), in denen er Texte über den Kleinbürger als Revolutionär verfasste. Konsequent verweigerte Pohrt jede Form von institutioneller oder gruppenförmiger Zugehörigkeit zu einem politischen Lager. Vor allem verweigerte er sich der Unsitte, irgendwelche politischen „Appelle“ zu unterschreiben. Wie wird heute bei den zynischen Appellen für einen „Waffenstillstand“ oder einen „Frieden“ in der Ukraine erleben müssen hat diese selbstgefällige Form der projektiven Anklage, Selbstaufwertung und Unterwerfung unter einen Aggressor bis heute kein Ende gefunden.
Auch der seinerzeit häufig politisch begründete Rückzug in Landkommunen oder in Wohngemeinschaften, im Sinne einer „Ablehnung“ der Welt, erschien ihm immer als äußerst befremdlich. Als er 1980, da war er 35, die Uni Lüneburg verließ verabschiedete er sich zugleich von eigenen Texten über die Revolution oder den Revolutionär. Pohrt habe ab diesem Zeitpunkt, so Bittermann, seinen Lesern keine Hoffnung mehr vermitteln wollen: Sein Resümee „lässt niemandem einen Ausweg. Seine Analyse ist existentiell und zudem pessimistisch“ konstatiert Bittermann (S. 104). Nun sei seine Aufgabe, zu zeigen, „was falsch läuft, worin das falsche Bewusstsein, die Ideologie besteht.“ (S. 104) Für praktische reformpädagogische oder reformpolitische Projekte ist der „Ideologiekritiker“ Pohrt nun endgültig nicht mehr zu haben – was zugleich, so will mir scheinen, eine Neigung zur sozialen und individuellen Isolation bis hin zur Selbstzerstörung einschloss. Vom seinerzeit vielgelesenen und renommierten Kursbuch wurde sein diesbezüglicher Text als „schauerlicher Unfug“ (S. 105) abgelehnt.
Immer wieder bindet Bittermann Auszüge aus Pohrts teils lebendigen, teils anstrengenden Texten in den Lesefluss ein, besonders jene, in denen Pohrt offenkundig auch eigene autobiografische Erfahrungen in direkter Weise einfließen lässt. Pohrt zweifelte mehr als andere, war unzufrieden, und sehnte sich doch noch ein wenig zurück in die wilden Zeiten der politischen Aktion – als die politische und soziale „Kritik“ vor allem „Wut über die Unmöglichkeit, menschenwürdig zu leben“ zum Ausdruck brachte, um hierdurch „die Bürger das Fürchten“ zu lehren (S. 113)
1980: Zurück nach Berlin
1980 zieht Pohrt mit seiner Freundin dann doch wieder nach Berlin. Zuvor hatte er noch einen zaghaften Versuch unternommen, die Uni gegen einen gutbezahlten Job beim Spiegel oder dem Stern zu tauschen, als Austauschkorrespondent in Jugoslawien; also hierdurch „zugleich“ Wirkmacht zu erlangen. Die Art und Weise, wie er sich für den Journalistenposten bewarb, dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass auch aus dieser Sache nichts wurde. Ambivalenz, tiefer Zorn und Unschlüssigkeit als eigene seelische Grundkonstanten – jede eigene Psychoanalyse hätte dies bei Pohrt rasch als zentrales, zu bearbeitendes Motiv zum Thema gemacht. Hiervor jedoch wollte Wolfgang Pohrt wirklich nichts wissen.
Gelangweilte Abwehr des Grauens
Auf 60 Seiten zeichnet Klaus Bittermann in einem eigenen Kapitel die 1970er Jahre nach. Wirklich lesenswert ist hierbei die Schilderung von Pohrts Freundschaft mit Eike Geisel. Beide lehrten in Lüneburg, als “junge Wilde“, die rasch ihre Liebe zu Israel entdeckten. Es war der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ (S. 127) Entgegen dem, was man heute über Eike Geisel zu wissen meint, war Geisel anfangs – wie wenig später auch die linke Feministin Ingrid Strobl, was im Buch knapp erinnert wird (S. 250-252) (vgl. Kaufhold 2022a) – keineswegs ein „Freund“ oder zumindest ein Sympathisant des jüdischen Staates der Überlebenden. Im Gegenteil: Für Eike Geisel war der traditionelle „linke“ Antiimperialismus ein von ihm akzeptierter Erklärungsansatz, Israel erschien nun als ein imperialistischer, unterdrückender Staat. Auch mit den überlieferten vulgär antisemitischen Äußerungen Ulrike Meinhofs, etwa dass bei der palästinensischen Geiselnahme der israelischen Sportler bei der Olympiade 1972 in München Israel seine Sportler „verheizt“ habe „wie die Nazis die Juden“ (S. 127), empörte Geisel seinerzeit noch nicht als eine primitiv antisemitische und nazimäßige Äußerung.
Geisels damalige Position hierzu habe bei der Freundschaft zwischen den beiden allein schon deshalb keine Rolle gespielt, vermutet Bittermann, „weil Pohrt damals vermutlich ähnlich dachte.“ (S. 127) Springers Bild-Zeitung und „die Regierung“ gaben sich pro-israelisch, insofern musste dies per se zuerst einmal falsch sein, dachte ein Großteil der aufbegehrenden linken Söhne und Töchter der Nazi-Generation, Eike Geisel eingeschlossen. Mit der Nazizeit hatten sie nichts zu tun, vor allem nicht familiär (vgl. meine biografische Studie über den Psychoanalytiker Sammy Speier, Kaufhold 2012).
Auch diese Entwicklung der beiden Freunde wird im Buch im Detail nachgezeichnet. Erst 1982 zeichnete Geisel seinen Erkenntnisprozessdetailreich nach und attackierte nun den „neuen“ Antisemitismus eines Großteils der Linken aufs Schärfste. Die von vielen Linken – bis heute – idealisierte PLO war für ihn nun wahrlich keine „Befreiungsbewegung“ mehr; diese war zuvörderst von nationalen Interessen gesteuert. Die Ernüchterung über „die“ Befreiungsbewegungen und das, was man innerhalb der Linken projektiv hiermit phantasierte und verleugnete, war bei Geisel und Pohrt riesig. Ihre schmerzhafte Desillusionierung wurde zur Quelle unzähliger scharfer literarischer und theoretischerTexte der Beiden in den nachfolgenden Jahrzehnten.
Bittermann ergänzt diese Beschreibung durch Verweise auf die zahlreichen Darstellungen vor allem jüdischer Intellektueller wie Bruno Bettelheim (Kaufhold 1994, 2001) und Hannah Arendt. Vor allem jedoch erinnert er an Eike Geisels Gesprächen mit Hanna Lévy-Hass in Tel Aviv 1978. Die selbstgerechten und geschichtsleugnenden Anklagen insbesondere innerhalb der bundesdeutschen Linken gegen den jüdisch-demokratischen Staat Israel ab 1969 (vgl. Kaufhold 2012) – also ausgerechnet durch die Nachfahren der Mördergeneration – die hierbei dominierende Kälte, die ja bis heute anhält, erkannte und bezeichnete Geisel als „gelangweilte Abwehr des Grauens.“ (S. 133)
Die RAF und „Distanzierungen“
Dennoch: Weiterhin mischte sich Pohrt in den linken Diskurs ein, insbesondere wenn es um die RAF ging und der – vielfach schuldgesteuerten – Frage für Linke, wie man sich zu ihr verhalten solle. Auch der Pohrt der späten 1970er Jahre war nicht bereit, sich von den ehemaligen Genossen, „die dem BRD-Staat den Kampf angesagt hatten, öffentlich zu distanzieren.“ (S. 147f.) Auch hierzu findet sich im opulenten Band vielfältiges Hintergrundmaterial.
Parallel hierzu haderte Pohrt über die Möglichkeiten, seine Texte in geeigneten linken Magazinen zu publizieren. Mal liebte er das Magazin Konkret, mal suchte er Distanz zum seinerzeit vielgelesenen linken Magazin und schrieb kaum noch darin. Bei den traditionslinken Konkret-Lesern waren Wolfgang Pohrt und Eike Geisel die wohl verhasstesten Autoren – wobei Alex Feuerherdt heute deren Nachfolge angetreten hat.
Soeben haben, um den Bogen zur Gegenwart zu schlagen, Feuerherdt und 17 weitere Vernünftige (u.a. Elke Wittich, Marit Hofmann, Leo Fischer und Ramona Ambs) wegen des pro-Putin Kurses des Blattes mit Neigung zum völkischen Denken ihre Autorenschaft bei Konkret aufgekündigt.
Immer wieder gelang es ihm und ihnen, mit ihren „antideutschen“ Texten über den Antisemitismus und die einfühlungsverweigernde deutsche Linke, Leser zur Kündigung des Magazins zu bewegen. Von ihm erwogene Pläne zur Neugründung eines linken Magazins hingegen scheiterten. Wolfgang Pohrt blieb, wohl mit innerer Ambivalenz, an das Magazin Konkret gebunden – der soziale Ort, von dem aus er mehr oder wenig regelmäßig die Welt doch ein klein wenig in Bewegung setzen und Ideologiekritik betreiben konnte.
„Palästina, Israel und die Deutschen“
1978 reisten Pohrt und Geisel gemeinsam nach Israel; im Band findet sich ein Foto dieser Reise (S. 152). Bei ihrer Ankunft erlebten sie die atmosphärischen Nachwirkungen eines besonders barbarischen Attentates eines Kommandos von neun Palästinensern. Hierüber hielt Pohrt in Berlin einen Vortrag, in dem er sich ungewohnt zurückhaltend verhielt und die Widersprüche bei der Einschätzung des barbarischen Mordattentates benannte: Zwar zeuge das Attentat immer noch für die Verzweiflung der Attentäter, zugleich enthalte es jedoch keinerlei revolutionäres Element. Er verwies auf die schwierigen Lebensumstände in den Flüchtlingslagern, strich aber zugleich „das peinliche Schweigen“ der deutschen Linken zu „Entebbe 1976“ (vgl. Kaufhold 2017) heraus: Zwei palästinensische Terroristen der PFLP und zwei deutsche Terroristen (Brigitte Kuhlmann und Wilfried Böse, beide Mitglied der „Revolutionären Zellen“ (RZ)) führten gemeinsam eine „Selektion“ von Juden zwischen den Passagieren durch (Kaufhold 2017, Benöhr-Laqueur/Pule 2017).
Pohrt versuchte in dem Vortrag nicht, einer engen ideologischen Linie zu folgen. Er versuchte Zweifel und Widersprüche in diesem schwierigen Konflikt zu benennen – was ansonsten nicht immer zu seinen Stärken gehört hat. Pohrt habe, betont Bittermann in seinem Buch (im Gegensatz etwa zu Ingrid Strobl, u.a. in „Anna und das Anderle“ (Strobl 1995) (vgl. Kaufhold 2022a)), keinen eigenständigen Aufsatz veröffentlicht, in dem er sich selbst in Bezug auf eigene „Irrtümer“ – was immer man hierunter verstehen mag – befragt habe. Pohrt interessiere jedoch leidenschaftlich das „antisemitische Geheimnis“ der Linken (S. 155), über das man Sprechen und das man, insbesondere vor dem Hintergrund der deutschen Naziverbrechen, verstehen solle.
„… damit das Opfer Israel nicht rückfällig werde“
Vier Jahre später, 1982, verfasste Pohrt noch einen weiteren Beitrag zum Thema, den er mit „Der Täter als Bewährungshelfer“ betitelte. Dieser wurde von der – seinerzeit noch mehrheitlich „antizionistisch“ geprägten – taz abgelehnt. Das war der taz denn doch zu starker, „palästinakritischer“ Tobak, so interpretiert es zumindest Bittermann: „Vormundschaft und Sorgerecht für das Opfer werden dem Täter zugesprochen“, führte Pohrt in seinem „Bewährungshelfer“-Beitrag aus. Mit ihren unvorstellbaren Verbrechen an den Juden hätten die Deutschen sich, gemäß ihrem eigenen Selbstverständnis, die „Auszeichnung und Ehre erworben, fortan besondere Verantwortung zu tragen“, schreibt Pohrt (S. 156). Der mustergültig geplante und durchgeführte Massenmord an den Juden verpflichte Deutsche offenkundig innerlich dazu, „Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde.“ (ebd.) Dieser auch bereits beim israelisch-österreichischen Psychoanalytiker Zvi Rix angelegte psychoanalytische Erklärungsversuch (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021, S. 58f.) bleibt von einer bestechenden Brillanz und, offenkundig, zeitlosen Gültigkeit, wenn es um deutsche Diskurse zum „Nahostkonflikt“ geht. Nichts wird sich hierbei ändern, weder im rechten (Kaufhold 2016) noch im linken politischen Spektrum. Dies ist zumindest meine Wahrnehmung. Auch bei der jüngsten Diskussion um den Antisemitismus auf der Kunstmesse Documenta in Kassel setzte sich dieser Diskurs zwanghaft fort (vgl. Rafael 2022).
Besserungsanstalt Auschwitz: „Die Israelis sind auch nicht besser als die Nazis…“
Immer wieder sollte Pohrt nun, wovon Vieles im Buch zitiert und nacherzählt wird, über die deutsche Schuldumkehr, den gewählten, selbstrettenden deutschen Opferdiskurs und dem ihm inhärenten deutschen Verdikt schreiben, „die Israelis seien auch nicht besser als die Nazis.“ (S. 158) Offenkundig hat Auschwitz als Besserungsanstalt für die Juden versagt, diese Israelis weigern sich einfach hartnäckig, aus der Geschichte und aus linken deutschen Geschichtserkenntnissen Lehren zu ziehen. Vergleichbare empört-resignative Interpretationen haben Pohrt, Geisel und der frühe Broder in ihren Kommentaren zu deutschen Nahostdiskursen immer wieder formuliert – und diese fanden sich auch zeitgleich in der von 1979 – 1980 in Köln erscheinenden Freien Jüdischen Stimme wieder (Kaufhold 2018a, 2018b). Bei ihren „propalästinensischen“ Kontrahenten hat dies, trotz der offenkundigen Validität ihrer Jahrzehnte langen Beobachtungen, nicht immer Freude und Zustimmung ausgelöst. Nahezu nichts hat sich in den vergangenen Jahrzehnten hieran geändert, der antisemitische „Wein“ wird in neue Schläuche gefüllt. The same procedure as every year.
Heute kommen die Anklagen und Auslöschungswünsche gegen Israel, mehr oder weniger eloquent verpackt, von BDS-Gruppen, von „Palästina spricht“ oder wohl auch von der „Jüdische Stimme für…“. „Neu“ ist hieran seit über einem halben Jahrhundert wahrlich nichts (Feuerherdt & Markl 2020).
Massendeportationen und Greuelpropaganda
Hierzu sei eine längere beschreibende Passage von Pohrt zitiert:
„Daß es in Israel keine Massendeportationen von Palästinensern gibt, keine Massenerschießungen, keine Konzentrationslager, von Vernichtungslagern nicht zu reden, ist der wahre Grund für eine dauernd von Deportationenund Erschießungen sprechende antiisraelische Greuelpropaganda hier, weil der vergleichsweise humane Umgang der Israelis mit ihren erklärten Feinden eine Fiktion zerstört, an welche die Nationalisten unter den Deutschen sich wie ein Ertrinkender an den Strohhalm klammern müssen: Die Juden hätten mit uns das Gleiche gemacht, wären sie in unserer Lage gewesen, wir sind nicht schlechter als sie, es war eben nur so, daß wir die Macht hatten und sie nicht.“ (S. 158)
Über 40 Jahre ist es her, man merkt es nicht.
Die Vertreibung der Palästinenser sei ein Unrecht, aber dies sei kein Grund, „im idiotischen Konflikt zweier völkischer Nationalismen“ nun Partei zu ergreifen, betonte Pohrt. Angemessener seien vielmehr „Ratlosigkeit“ sowie „Resignation“ (S. 161) (vgl. Kaufhold 2019a, 2019b).
Zeugnisse von KZ-Überlebenden
Es folgt in Bittermanns Biografie ein Kapitel über den Nationalsozialismus und das KZ-System. Wolfgang Pohrt las viele Berichte von KZ-Überlebenden, die über die Lager Zeugnis abgelegt und diese zugleich wissenschaftlich analysiert hatten. Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene jüdische Psychoanalytiker und Überlebende Bruno Bettelheim (vgl. Kaufhold 1994, 2001) war für Pohrt eine zentrale Erkenntnisgröße (S. 131, 172), insbesondere dessen früh – ab 1943 – vorgelegten Studien über die Zerfallsprozesse in den Konzentrationslagern unter den Bedingungen des totalen Terrors (Bettelheim 1979, 1990, Kaufhold 1994, 2001). Bittermann zitiert auch aus einem frühen Briefwechsel Pohrts mit J. P. Reemtsma – welcher später ein selbstloser Förderer Pohrts werden solle (s.u.). Als Pohrt später wegen seiner äußerst scharfen Kritik an der „Friedensbewegung“ – die er bereits früh als „nationale Erweckungsbewegung“ attackieren sollte (wobei die spätere Entwicklung einiger ihrer Protagonisten, darunter auch Lafontaine, Pohrts aus Enttäuschung erwachsenen desillusionierten Weitblick bestätigen sollte) – in heftigste Auseinandersetzungen geriet war es kein Geringerer als der kürzlich verstorbene Lothar Beier, der Pohrt unter explizitem Verweis auf dessen Darstellungen zum KZ-Universum in Schutz nehmen sollte.
Bittermann zeichnet kenntnisreich Pohrts von zahlreichen schmerzhaften Rückschlägen gekennzeichneten Kampf ab den 1980er Jahren nach, seine Existenz als freier Publizist zu bestreiten. Nacheinander vermochte er seine „Schubladentexte“ und Interventionen denn doch als Bücher aufzulegen, so „Ausverkauf. Von der Endlösung zu ihrer Alternative“ (1980), „Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation“ (1982) (s. S. 229-235), „Kreisverkehr, Wendepunkt. Über die Wechseljahre der Nation und die Linke im Widerstreit der Gefühle“ (1984), „Zeitgeist Geisterzeit. Kommentare & Essays“ (1986), „Harte Zeiten. Neues vom Dauerzustand“ (1986), „Kapitalismus Forever“ (2011) sowie „Das allerletzte Gefecht. Über den universellen Kapitalismus, den Kommunismus als Episode und die Menschheit als Amöbe“ (2013).
Die 80er Jahre: An der Grenze zur Prominenz
Dann folgen im Buch mehrere Kapitel über die 1980er Jahre, in denen der talentierte Polemiker und euphorische Zuspitzer an der „Grenze zur Prominenz“ stand, wie ein Kapitel überschrieben ist (S. 181-258).
Zugleich interpretiert Bittermann Pohrts neue Schreibbemühungen als einen – für Außenstehende eher nicht nachvollziehbaren – Trauerprozess über „das Scheitern der Revolution.“ (S. 181) „Der Traum ist aus“ sang Rio Reiser parallel zu ihm mit seiner Band Ton, Steine, Scherben: „Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? (…) Ich weiß es wirklich nicht – Ich weiß nur eins, und da bin ich sicher: Dieses Land ist es nicht!“ Es wirkt so, als habe sich Rio Reiser mit Wolfgang Pohrts und Eike Geisels Texten auseinander gesetzt.
Nun wurden Wolfgang Pohrts Bücher jeweils nach ihrem Erscheinen prominent in Tages- und Wochenzeitungen besprochen – mit sehr unterschiedlichen Urteilen. Seine Brillanz in der polemischen Zuspitzung wurde ihm hierbei nirgends abgesprochen. Auf ablehnende Buchbesprechungen, etwa durch Schütte in der FR, reagierte er mit beißendem Spott, indem er Schütte als „Ehrenretter der Kulturnation“ (S. 185) verspottete. Pohrt verfügte über ein außergewöhnliches Talent, sich lebenslange Feinde zu schaffen. Selbst Bittermann konzediert bei einem geharnischten Angriff Pohrts im Jahr 1980 gegen das linke Magazin Kursbuch „das Motiv der Rache“ (S. 186).
Ausführlich wird im Buch das winzige Netz der gleichgesinnten und gleich talentierten Begleiter Pohrts beschrieben; dies waren neben Geisel und Broder jener Jahre vor allem der gleichfalls 1945 geborene, heute weitestgehend vergessene Stilist und Kämpfer Christian Schultz-Gerstein (1945 – 1987). Dieser genial-unglückliche Journalist verstarb noch früher als seine vergleichbar wortgewaltigen Weggefährten (vgl. Schultz-Gerstein 2021).
Dessen Auseinandersetzungen mit seinem Spiegel-Chef Augstein zerstörten das Ausnahmetalent. Schultz-Gerstein suchte die Flucht in einen faktischen Alkohol-Suizid. Allein diese Erinnerungen an dieses außergewöhnliche literarische Talent dürften als Motiv zum Kauf von Bittermanns Pohrt-Biografie ausreichen.
1981: „Ein Volk, ein Reich, ein Frieden“ – alt-neue deutsche Heimatgefühle
Wolfgang Pohrt suchte immer wieder mehr als persönlich getönte Auseinandersetzungen, so mit dem Verfasser eines Buches über die „Alternativbewegung“, in dessen Werk er in bisher unübertroffener Schärfe eine Bereitschaft konstatierte, „das Vergasen in sein Kalkül“ einbezogen zu haben“ (S. 200). Selbst Freunde waren ob Pohrts gelegentlich gezielter, brutaler sprachlicher Ausfälle gelegentlich erschrocken. Die Veränderungen im „linken“ Buchmarkt und bei linken Verlagen, statt politischer Bücher nun Werke über Schamanen, Indianer, Hexen oder die deutsche Friedenssehnsucht zu bringen, erzürnten den Intellektuellen zutiefst. Er sah hieran, neben Geschichtsvergessenheit, vor allem die Wiederentdeckung der patriotischen Gefühle bei einem großen Teil der „alternativen“ Szene; gepaart mit dem üblichen linken Antiamerikanismus und Antisemitismus – etwa wenn der Konkret-Autor Piwitt eilfertig von der „Yankee-Kultur“ schwadronierte. Im Oktober 1981, zu den Hochzeiten der Friedensbewegung („Nachrüstung“, SS-20), als in Bonn 300.000 Menschen auf der Hofgartenwiese gegen die amerikanischen Raketen demonstrierten (darunter der Autor dieser Zeilen), veröffentlichte Pohrt in der Zeit seinen vielleicht wirkmächtigsten Beitrag: „Ein Volk, ein Reich, ein Frieden“, angereichert mit dem Untertitel „Über die Friedensbewegung und das neue, alte Heimatgefühl“ (S. 215): Wenn uns eine Atomrakete treffe seien wir alle tot, eröffnet er seine scharfe Polemik, aber mit der Friedensbewegung müssten wir leben. Diese Zeilen sollten seine ehemaligen Freunde, seine Feinde und die wiedergutgemachten deutschen Friedensfreunde über Jahre nicht mehr vergessen, Pohrt nicht verzeihen; wie auch seine Analyse, dass die Friedensbewegung vor allem eine nationale Erweckungsbewegung sei. Dies verletzte ihr narzisstisches edles Selbstbild zutiefst. Vielleicht fühlten sie sich durch Wolfgang Pohrt auch durchschaut, verfügten also doch noch über eine Mindestform von Selbstreflexion.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Pohrt vermutlich noch nicht – jetzt als exemplarisches Beispiel – , den mit militärischen Vorerfahrungen ausgestatteten, seinerzeit prominenten „Friedensforscher“ Alfred Mechtersheimer im Blick. Die Grünen hatten den parteilosen ehemaligen Oberst der deutschen Luftwaffe 1987 in den Bundestag geschickt. Wenig später beklagte der einstige linke Friedensforscher die mangelnde nationale Begeisterung der Grünen und galt wenige Jahre später als ein Vertreter der Neuen Rechten.
Massenpsychologie und Wilhelm Reich
Aber Pohrt, diese publizistische Einmanngerilla (taz, 20.5.2010), beließ es nicht bei gescheiten Schmähungen. Er verwies, weiterhin theoretisch ambitioniert, zugleich auf den ideengeschichtlichen Hintergrund seiner Analyse von Massenbewegungen, nämlich auf die psychoanalytisch konnotierten Schriften von Fromm, Horkheimer und Adorno – aber vor allem auf Wilhelm Reichs visionäre, während seiner eigenen Flucht aus Nazideutschland 1933/34 verfassten genialen Studie „Massenpsychologie des Faschismus“ (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021, Kaufhold 2020).
Pohrt gewann und verlor parallel hierzu weitere prominente, leidlich zahlende Publikationsorte. Je treffsicherer er formulierte desto größer war die Sorge linker und liberaler Medien, ihn zu publizieren. Waschkörbeweise wurden die Redaktionen von erbosten Leserbriefen und teils auch Abokündigungen überrollt. 1982 blieb ihm fast nur noch die taz, die 1982 seine Analyse der deutschen Friedensbewegung – „Die Angst der Deutschen“ – publizierte.
So verwundert es auch nicht, dass Pohrt für jede Form von „christlich-jüdischer“ oder „deutsch-jüdischer“ Verbrüderung, für „Versöhnung“ nur Hohn und Spott übrig hatte. Er denunzierte diese folgerichtig und lustvoll als „Verbrüderungskitsch“ (S. 355-365) – eine Auseinandersetzung, die von mehreren jüdischen linken Publizisten Jahre zuvor bereits in Broders & Finkelgruens Freie Jüdischer Stimme geführt worden war (Kaufhold 2019a, 2019b). Pohrts Abrechnung mit dem christlich-jüdischen „Verbrüderungskitsch“ erschien in der taz, die Reaktionen fielen noch heftiger als zuvor aus. Pohrt kokettierte damit, dass sein Marktwert durch die öffentliche linke Empörung vielleicht doch noch steigen würde. Die taz ging auf Distanz. Als Port daraufhin in einer Replik auf diese Distanzierungen in einem journalistischen Beitrag, der den sperrigen Untertitel „Integrationswilliger Sozialfall auf der Suche nach der nationalen Identität“ (S. 365) trug, nachlegte warf die taz ihn als Autor endgültig hinaus. Das linke Magazin, das sich strömungsübergreifende Pluralität auf seine Fahnen geschrieben hatte, sollte nichts mehr von dem prominenten Autor bringen. Wolfgang Pohrts scharfen Analyse und Boshaftigkeiten überschritten sogar die öffentlich verkündete taz-Liberalität und Toleranz.
Wenig später schob der Dauerraucher Pohrt nach Protesten eines militanten Nichtrauchers auf einem Gesundheitstag noch nach, dass die taz ein „Seniorenblatt für Revolutionäre im vorzeitigen Ruhestand“ sei und Leser hätte, die „ihre Zukunft hinter sich“ haben. Man vermag Pohrt im Rückblick gewiss nicht vorwerfen, dass er auch nur ein einziges Mal nachgegeben, eine Brücke geschlagen habe, um sich zumindest einige, zahlende Publikationsorte zu erhalten.
Der Golfkrieg 1991: „Das ganze Pack hinter Gitter zu verfrachten…“
Ende der 1980er Jahre erschien ihm die Rolle des „Ideologiekritikers“ zunehmend als fragwürdig, wenn nicht gar als sinnlos. Dieses Kapitel war abgeschlossen. Er versuchte sich nun als Sozialforscher, woraus eine neue Serie von Büchern erwuchs. Mit dem „alten“ Pohrt hatte dies alles eher nichts mehr viel zu tun. Dennoch griff er für diese neue wissenschaftliche Aufgabe auf seine Studienjahre (s.o.) zurück, als er noch intensiv die Schriften von Adorno und Horkheimer studiert hatte, und holte deren Werke hierfür noch einmal aus seinen Bücherregalen hervor.
Er glaube nicht, so merkte er zu dieser neuen Tätigkeit an, dass seine Studien „auch nur einen Gedanken“ enthielten, „den man nicht bei Horkheimer oder Adorno finden könnte.“ (S. 417)
Erst als 1991 der Golfkrieg begann, als prominente Friedensforscher die alliierten Luftangriffe als Verbrechen attackierten und junge sowie ins Alter gekommene Deutsche weiße Betttücher als Ausdruck ihrer Friedensbemühungen in ihre Fenster hängten, erwachte in Wolfgang Pohrt noch einmal kurzzeitig der alte Kampfgeist. Dennoch war es nicht Pohrt sondern der „linke“ Lyriker Enzensberger, der im Februar 1991 im Spiegel Saddam Hussein als „Hitlers Wiedergänger“ kategorisierte.
Ströbele, seinerzeit Bundessprecher der Grünen, zuvor zehn Jahre lang Spendensammler der Kampagne „Waffen für El Salvador“, hatte im Februar 1991, während des Golfkrieges bei einer Israelreise seinen „antizionistischen Furor“ in einem Interview mit Broder so eindrücklich offenbart, dass ihn dies immerhin seinen Posten als Bundessprecher der Grünen kostete. Klaus Bittermann rekonstruierte dies zwei Monate später in der taz ironisch und beschrieb, dass Ströbeles Anwalt in seinen – gescheiterten – öffentlichen Verteidigungsbemühungen Broder sogar als einen „Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad“ bezeichnete. Selbst dies half nicht.
Pohrt verfasste daraufhin mehrere mehr als scharfe Beiträge, bei denen er kurzzeitig jede Kontrolle über seine Sprache verlor – was er wenig später bereuen sollte.
Zuerst schrieb er in einem von der Deutschen Welle angeforderten Beitrag über die deutschen Reaktionen auf den Golfkrieg, die Deutschen verhielten sich so, „als wäre der Geist ihrer Ahnen über sie gekommen (…) als wäre Großadmiral Dönitz eben von den Toten wieder auferstanden, um abermals die Deutschen auf ihr Ende einzustimmen.“ (S. 436) Der eigentlich gut bezahlte Beitrag wurde abgelehnt und konnte nur in der International Herald Tribune erscheinen, in der auf Konkret als Hauptpublikationsort Pohrts verwiesen wurde. Daraufhin rief sogar der Staatsminister des Auswärtigen Amtes bei Konkret an um sich zu beschweren, dass Pohrt „den Bundeskanzler, den Außenminister und die Friedensbewegung, ja sogar alle Deutschen beschimpft habe“ (S. 437). Der hohe Regierungsbeamte drohte dem Magazin relativ direkt, dass es doch eigentlich einen guten Ruf habe, den es durch Pohrt… Dies war ein wirklich äußerst ungewöhnlicher Vorgang innerhalb der politischen Szene.
„Man faßt es nicht, daß in Israel Auschwitzüberlebende mit der Gasmaske unter Sirenenalarm in den Schutzraum flüchten müssen, während die Kinder und Enkel der Massenmörder…“
Daraufhin legte Pohrt, emotional offenkundig mehr als aufgebracht, noch einmal nach und veröffentlichte einen als vorbehaltlose Verteidigung der amerikanischen Außenpolitik im Golfkrieg gedachten öffentlichen „Brief“ – ein Stilmittel, das ihm ansonsten wesensfremd war. Nach Spott und Hohn war Pohrt nun nicht mehr zumute, zu aufgewühlt war er: Er rekapitulierte die öffentliche deutsche Diskussion über den Golfkrieg und das nun aufbrechende Bedürfnis der Deutschen, ausgerechnet über ihre eigene Angst zu lamentieren – just während Saddam Husseins Raketen Israel zu bedrohen versuchten und Zehntausende Palästinenser für einen irakischen Raketenangriff auf Israel demonstrierten (Der Spiegel 28.3.2003: „Saddam, attackier Tel Aviv!“).
In seinem Brief beschrieb Pohrt das Lamentieren im „sicheren“ Deutschland über die eigene Angst, „während Israel von einem Gasangriff bedroht ist. Man faßt es einfach nicht, daß in Israel Auschwitzüberlebende mit der Gasmaske nachts unter Sirenenalarm in den Schutzraum flüchten müssen, während die Kinder und Enkel der Massenmörder von einst hier gemütlich über das Verhältnis von Erster und Vierter Welt räsonieren oder sich fröhlich auf der Bonner Hofgartenwiese tummeln und nicht die Verteidigung der bedrohten, sondern Frieden mit einem Aggressor fordern, der ohne jeden militärischen Sinn reine Bevölkerungszentren bombardiert, wie dies die Nazis in Rotterdam und Coventry taten.“ (S. 437) Dann entglitt Pohrt endgültig die Kontrolle über die Sprache. Er entwarf das Szenario, dass die „Friedenstücher“ als „Kapitulationserklärung“ zu verstehen seien sowie als Einladung, „das ganze Pack hinter Gitter zu verfrachten“ denn „je weiter links einer stand, ein desto engagierterer Nazi ist er nun (und) man braucht keine Phantasie mehr, um sich (…) die Autonomen als Volkssturmabteilungen der Hitlerjugend oder als Verbände der Aktion Werwolf vorzustellen.“ (S. 438) Eine solche Linke sei moralisch „vollkommen erledigt“. Und als er kurz danach – Zeitungsmeldungen gab es im Krieg viele – die Meldung vernahm, dass Hussein nun „Israel mit Chemiewaffen auslöschen wolle“ hoffte er, „daß Israel diese Absicht gegebenenfalls „mit Kernwaffen zu verhindern wissen wird.““ (S. 438) Der „Brief erschien in Konkret 3/91, und Pohrt erkannte ihn bereits kurz danach als einen Fehler, der ihm und „der Sache“ eindeutig schadete. Es soll danach zu 1000 Abokündigungen bei Konkret gekommen sein.
Auch im Rückblick aufschlussreich, dies sei angesichts der jüngsten „Ukraine-Diskussionen“ an dieser Stelle erwähnt, dass ausgerechnet Alice Schwarzer sich über den „antideutschen“ Pohrt empörte und ihm Vorwarf, nur „Verachtung und Hass für deutsche Pazifisten (und vor allem Pazifistinnen)“ übrig zu haben (S. 436). Auch, so ihre überraschende Erkenntnis, würde Pohrt „sich dabei auf sein Judesein berufen“, vermutlich weil sein Name so jüdisch klinge. Bittermann fügt hierzu lakonisch an, es sei unschwer zu erkennen, „wie der Antisemitismus in Schwarzer rumorte und ans Licht drängte.“ (S. 436)
1990 Rückzug in Reemtsmas Institut: „Eine Mischung aus essayistischen Betrachtungen mit statistischen Auswertungen“
Im Buch werden zahlreiche weitere, vergleichbare Auseinandersetzungen nachgezeichnet, die heute nahezu alle vergessen sind – was vielleicht auch nicht als bedauerlich erscheinen könnte. Wahrgenommen wurde Wolfgang Pohrt, der nahezu nur noch – mit gelegentlichen Abbrüchen – in Konkret publizierte, in den 1990er Jahren wohl nur noch durch ein sehr linkes Publikum. Selbst Talkshowauftritte lehnte er ab. Stattdessen fand er ab März 1990 Unterschlupf bei Reemtsmas Hamburger Institut und vermochte so seinen Lebensunterhalt zu bestreiten (S. 419-427). Er wollte sich 1989 endgültig aus dem Kulturbetrieb verabschieden und mit den Mitteln von Adornos empirischer Soziologie, auf Basis der Forschungen zur „autoritären Persönlichkeit“, herausfinden, wie die amerikanischen Republikaner „ticken“ (S. 419). Der Fall der Berliner Mauer und der schrittweise Zerfall des russischen Imperiums veränderten zeitgleich die Rahmenbedingungen seines avisierten Forschungsprojektes.
An Reemtsmas Hamburger Institut erhielt er einen speziell auf ihn zugeschnittenen Posten als „wissenschaftlicher Nomaden“ (S. 421) bzw. als „gesellschaftstheoretisierender Privatier“ (S. 484). Dem vorausgegangen war ein Briefwechsel mit Reemtsmas Mitarbeiter Uli Bielefeld, der einem „Arbeitskreis Sozialpsychologie“ vorstand. Pohrts Emotionen kochten angesichts dieses universitären Akademikers sogleich hoch. Selbst die Aussicht auf einen gesicherten Lebensunterhalt vermochte ihn nicht zu beruhigen. Pohrt ließ nichts unversucht, um das Projekt, das ihm seinen Lebensunterhalt sichern sollte, doch noch scheitern zu lasse: Ich will „Ihnen meinerseits ein kleines Geheimnis verraten“, schrieb er dem Soziologie-Hochschulforscher. „Forscher wird einer meist, wenn er im praktischen Leben so dämlich ist, dass er den Panzerschrank nicht mal dann aufbekäme, wenn man ihm die Kombination souffliert.“ Von solchen Leuten müsse er sich gründlich fern halten, fügte er gegenüber dem Soziologen Bielefeld noch hinzu, „sonst brechen meine überwundenen Jugendtorheiten wieder durch und ich fange auf meine alten Tage nochmal an, im Chemie-Buch nachzulesen, wie man in der Heimküche Buttersäure und Schwarzpulver mischt.“ (S. 421).
Und Reemtsma teilte er mit, dass dieser die Idee wieder vergessen solle.
Da Sache ging glimpflich aus. Es kam weder zum Bau von kleinen Bomben noch zu einer Kooperation von Bielefeld und Pohrt.
Der Liberale Reemtsma erkannte die Situation klarsichtig, akzeptierte Pohrts Verweigerung und Unwilligkeit, sich in derart Abstruses einbinden zu lassen – und Pohrt erhielt eine forschende Sonderstelle mit dem Zusatz, dass er nur noch Reemtsma persönlich gegenüber rechenschaftspflichtig sein würde. In seiner Projektbeschreibung erklärte Pohrt dann, dass sein sozialwissenschaftliches Forschungsprojekt „strengen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht gerecht“ werde wolle. Es sei eine Mischung aus „essayistische(n) Betrachtungen mit statistischen Auswertungen.“ (S. 425)
Reemtsmas Buch über die Folter hingegen interessierte Pohrt wirklich.
Trauer um einen Freund: „Some of my best friends are German“
Jeder hat ja so seinen eigenen Zugang zu Texten und Beschreibungen. Wie sich vielleicht herum gesprochen hat schau ich die Welt immer auch aus psychoanalytischer und biografischer Sicht an. „Der Tod eines Freundes“ ist ein fünf Seiten langes Buchkapitel bei Bittermann, das ich wirklich mit innerer Anteilnahme gelesen habe. Auch hier schreibt Bittermann in mich angenehm berührender Weise. Natürlich spreche ich vom Tode Eike Geisels im Jahr 1997, dem gleichfalls 1945 geborenen Weg- und Kampfgefährten Wolfgang Pohrts. Dieser hatte Bonmots wie „Some of my best friends are German“ geprägt. Seitdem sie nicht mehr gemeinsam in Lüneburg lehrten sahen sich Wolfgang Pohrt und Eike Geisel nicht mehr so häufig.
1995 war der 50-jährige Eike Geisel in ein Koma gefallen, zwei Jahre später verstarb er.
Eike Geisel, so darf man wohl sagen, war als Publizist ökonomisch etwas erfolgreicher als Pohrt, vor allem auch weil er ein klein wenig mehr Kompromisse machte und sich auch stärker als Pohrt in der Welt herum trieb. Vor allem jedoch interessierte er sich innerlich wirklich für jüdische Themen, insbesondere für den Jüdischen Kulturbund. Hierbei arbeitete Geisel mit dem seinerzeit gleichfalls noch „leidlich linken“ und journalistisch sehr erfolgreichen Henryk M. Broder zusammen (vgl. Kaufhold 2019a, 2019b). 1992 war ihr gemeinsames Buch „Premiere und Pogrom. Der Jüdische Kulturbund 1933 – 1941“ erschienen.
Auch Eike Geisel hatte immer, wie Pohrt, auf die Unversöhnlichkeit zwischen Juden und Deutschen insistiert. Und er formulierte Zeilen wie „Man könnte nachgerade sogar sagen, die Deutschen seien, wenn man sie beim Wort nähme, das größte jüdische Volk.“ Die Eifersucht auf die Opfer solle man „am besten als Judenneid“ bezeichnen. Die vorgebliche Trauer vieler Deutscher über die Vertreibung und Ermordung der Juden sei erstaunlich und erscheine ihm zumindest als fragwürdig, weil man diesen Verlust eigentlich nie verspürt habe, erinnerte Alex Feuerherdt 2007 in seinem Nachruf auf Eike Geisel.
Eike Geisel, der auch die Werke Hannah Arendts übersetzt hat, war für seine sprachliche Schärfe und seine Polemiken gleichermaßen berühmt wie gefürchtet. Und er, dessen Texte vereinzelt auch in israelischen Zeitungen erschienen, war gelegentlich nachweisbar wirkmächtig, etwa als er ein Buch (1995) von Oliver Sack als „antisemitische Rohkost“ bezeichnete. Die FR druckte sein Verdikt, die taz hatte zuvor eine Veröffentlichung abgelehnt. Nach Erscheinen seines empörten Verrisses ließ der Piper Verlag die bereits gedruckten 6000 Exemplare einstampfen. Die ZEIT publizierte zeitgleich einen mit „Ich bin Reporter und Jude“ betitelten Beitrag des amerikanischen Journalisten mit jüdischem Hintergrund.
Pohrt schrieb in Konkret einen persönlich gehaltenen Nachruf auf seinen Freund Eike, den Bittermann in feiner Weise vorstellt und einordnet. Pohrt hebt Geisels „Spottlust, Eloquenz und großsprecherischen Charme“ hervor (S. 525). Dessen Texte und Forschungen zu jüdischen Themen waren ihm jedoch eher nicht so direkt zugänglich. In persönlichen Bemerkungen entwertete Pohrt diese, was Bittermann in den Kontext von Pohrts zunehmender Depression setzt. Wer das Leben als vergeblich betrachtet und selbst kleine Ansätze zur Erinnerung über den Abgrund der Vernichtung hinaus schlecht redet hat wenig Chancen auf ein leidlich glückliches Leben. Bittermann beschreibt Geisel als den sehr viel stärker als Pohrt seine kleinbürgerlichen Verhältnisse überwindenden Menschen, der nach dem Abitur nach Israel aufbrach, der Tennis spielte und auf Menschen zuging.
Pohrt unterstützte dennoch eine posthume Herausgabe der Texte von Eike Geisel – die unter dem genialen Titel „Die Wiedergutwerdung der Deutschen“ erschienen sind. Er hatte großen Anteil an der Zusammenstellung des Bandes, was er jedoch im Sammelband nicht erwähnt sehen wollte. Er verfasste auch kein Vorwort zum Band und lehnte auch einen Nachdruck seines Nachrufes auf Eike in dem Geisel-Band als nicht angemessen ab.
Die letzten Jahre: „Die Antideutschen sind die letzten überlebenden Patrioten“
Die letzten 70 Seiten des Bandes sind Pohrts letzten 20 Jahren gewidmet. Hierbei gelang es dem das Abseits suchende und Beziehungen immer mehr einschränkenden genialen Stilisten sogar, sich auch noch mit seinem finanziellen Förderer Reemtsma zu überwerfen. Seine politischen Publikationen ließen immer mehr nach. Im Jahr 2000 bekam der 55-Jährige von der Fachhochschule Ludwigsburg für zwei Jahre einen Job als „Forscher in Sachen Wissensmanagement“, über den er lakonisch bemerkte, er wisse eigentlich nicht was er dort mache: „Vielleicht finde ich es nie heraus, aber es hetzt mich auch keiner.“ (S. 562) Auch Ideologiekritiker wollte er keiner mehr sein. Als er 2003 eine Einladung eines „Bündnisses gegen Antisemitismus und Antizionismus“ erhielt – er sollte dort gemeinsam mit Broder auftreten – betitelte er seinen Vortrag mit „Zoff im Altersheim“ (S. 565). Nennenswerten Antisemitismus und Rassismus gäbe es heute jedoch nicht. Die Debatten über Walser und Möllemann interessierten ihn nicht mehr. Als seine Frau Maria, seine lebenslange Weggefährtin und Geliebte, 2004 verstarb schlug Pohrts Vereinsamung in Selbstanklagen um: Sein gesamtes Werk sei „ein einziges Dokument der Dummheit, der Eitelkeit und der Verantwortungslosigkeit.“ Mit Maria habe er auch den einzigen Leser verloren, „dessen Urteil mir wirklich wichtig war.“ (S. 577)
Vier späte Werke: Das allerletzte Gefecht
Die folgenden 14 Jahre waren nur noch ein Epilog. 2010 stimmte der 65-Jährige auf Drängen Bittermanns doch noch einer Veröffentlichung eines Sammelbandes – Gewalt und Politik – zu. Später folgten die Bände „Kapitalismus Forever“ (2011), „Das allerletzte Gefecht“ (2013) sowie „Die Vertreibung aus dem Paradies – ein Jahr danach“ (2013). Einladungen insbesondere von Antideutschen lehnte er ab: Die deutschen Zustände seien wirklich nicht so wichtig. Sie auf einer „eigens ihnen gewidmeten Konferenz besprochen, verrissen, verflucht, bejammert auf jeden Fall gewürdigt“ zu sehen erscheine ihm als ein befremdliches Unternehmen, schrieb er. Und fügte lakonisch hinzu: „Aber ich wusste es ja immer: „Die Antideutschen sind die letzten überlebenden Patrioten.“ (S. 579).
Der Autor dieses Textes bekennt mit klammheimlichem Schmunzeln, dass ihm auch schon derartige Vermutungen gekommen sind, er diese jedoch niemals in öffentlichen Texten formuliert hätte und sich scharf davon distanzieren würde.
This is the end: „Eine antideutsche Linke in deutschem Interesse zu denunzieren“
2016 wurde ihm von Ärzten eine unheilbare Krankheit offenbart, die Einsamkeit, „die ihn umgab, war fast körperlich zu spüren“, resümiert Bittermann (S. 617). Seine Krankheit gewann die Macht über ihn. Ein Journalist spürte ihn in einem Pflegeheim auf. Freunde wie der Freiburger Joachim Bruhn kümmerten sich um ihn und feierten mit ihm das Erscheinen der ersten beiden Bände seiner Werkausgabe. Nach zwei Jahren fiel Wolfgang Pohrt – wie ja zuvor auch Eike Geisel – in ein Koma, Ende 2018 verstarb er.
In Nachrufen – auch auf haGalil – wurde er geradezu hymnisch erinnert und gefeiert. Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass Pohrts Wirkkraft der 1970er ungebrochen sei – insbesondere wenn seine Polemiken dazu geeignet erschienen, „eine antideutsche Linke (…) in deutschem Interesse zu denunzieren.“ (S. 621). Andere lobten den verstorbenen Pohrt als einen der unabhängigsten, intelligentesten, streitbarsten und zugleich unerträglichsten Menschen seiner Zeit.
Klaus Bittermann: Der Intellektuelle als Unruhestifter. Wolfgang Pohrt. Eine Biographie. Berlin: Edition Tiamat (Reihe Critica Diabolis) 2022, 678 S., Bestellen?
Der Artikel erschien bereits auf Hagalil
Literatur
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Kaufhold, R. (2022a): Vergessene Heldinnen des Widerstandes. Judy Batalion: Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen, in: Psychosozial 45. Jg. (2022), Heft II (Nr. 168).
Kaufhold, R. (2022b): „Mich erfüllte ein Gefühl von Stolz. Ich hatte es geschafft.“ Peter Finkelgruen: Ein halbes Jahrhundert Leben als Jude in Deutschland. Norderstedt: Books on Demand.
Rafael, S. (2022): Die Documenta 15 kann beim besten Willen keinen Antisemitismus erkennen, in: Belltower.news, 21.6.2022: https://www.belltower.news/kommentar-die-documenta-15-kann-beim-besten-willen-keinen-antisemitismus-erkennen-133549/
Schultz-Gerstein, C. (2021): Rasende Mitläufer, kritische Opportunisten. Porträts, Essays, Reportagen, Glossen. Berlin: Edition Tiamat.
[i] Im Oktober 1980 schrieb Pohrt in der taz, dass „an akuter Hirnerweichung leidet“, wer nicht glaube, dass Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim ermordet wurden, erinnerte Stefan Reinecke 2020 in der taz. https://taz.de/Verschwoerungserzaehlungen-in-der-taz/!5685692/
„Mit ihren unvorstellbaren Verbrechen an den Juden hätten die Deutschen sich, gemäß ihrem eigenen Selbstverständnis, die „Auszeichnung und Ehre erworben, fortan besondere Verantwortung zu tragen.“ … Der mustergültig geplante und durchgeführte Massenmord an den Juden verpflichte Deutsche offenkundig innerlich dazu, „Israel mit Lob und Tadel moralisch beizustehen, damit das Opfer nicht rückfällig werde.“
Ich kannte den Namen Wolfgang Pohrt bis vor einer halben Stunde nicht.
Und die zitierten Sätze verstehe ich nicht.
Wie sollte das Opfer (Israel?) rückfällig werden?
Die Shoah war nur einer von verschiedenen Gründen, warum es den Staat Israel gibt.
Wer sich mit der Realgeschichte der Juden, des Staates Israel und seiner Feinde auskennt, der weiß eines sicher: Es gibt für Juden nur ein Land, in dem sie schlußendlich sicher leben können. Und das heißt Israel.
Dazu bedarf es keiner linken, antideutschen oder sonstwie gearteten Theorien. Es reicht ein Blick in die Geschichtsbücher.
Den Staat Israel irritieren die Debatten deutscher mehr oder weniger linker Intellektueller
nicht. Er legt Wert auf die pünktliche Auslieferung deutscher U-Boote und anderer Waffensysteme.
Und den Durchschnittsisraeli interessieren diese Debatten ebenfalls nicht. Der will vielleicht nach Deutschland in das Land seiner Urgroßeltern reisen, das Land der Täter besichtigen, einen deutschen Pass beantragen oder einfach nur ein paar Tage in Berlin durchfeiern.
Deutsche Nabelschau beschäftigt die genauso wenig wie der Sack Sand, der sonstwo in Arabien umfällt.
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