Mit seiner Autobiografie „Erinnerungen. Mein Leben in der Politik“ setzt der nach 81 Jahren viel zu jung verstorbene Wolfgang Schäuble einen Schlussstrich unter ein bewegtes Leben in der Politik. Große Enthüllungen sind nicht zu erwarten, allzu harsche Kritik an Angela Merkel bleibt aus und wichtige Aspekte wurden ausgespart. Dass das 656 Seiten lange Buch durchaus lesenswert ist, liegt an Schäubles bewegten Leben.
Als Wolfgang Schäuble am zweiten Weihnachtstag des letzten Jahres im Kreis seiner Familie verstarb, ging ein Mann von uns, der so etwas wie der Forrest Gump der bundesdeutschen Politik war – bei allem dabei, aber selten direkt im Rampenlicht, das er gern seinen jeweiligen Dienstherren überließ. Ein Pragmatiker und loyaler Parteisoldat, dem die Kritik am Handeln der eigenen Regierung zwar gelegentlich herausrutschte, der aber auch Maßnahmen unterstützte, an die er nicht wirklich glaubte. Ein Konservativer, der sich nicht wirklich als ein solcher sehen wollte. Aber ein Mann mit Rückgrat und Intelligenz und einem teuflisch trockenen Humor, den man nicht nur aufgrund des momentanen politischen Fachkräftemangels schmerzlich vermissen wird.
Seine Autobiografie beginnt genreüblich in seiner Kindheit, die er im baden-württembergischen Hornberg verbrachte – ein Kind des Mittelstandes in der nach und nach florierenden Bundesrepublik – mit einem vorgezeichnet scheinenden Lebensweg: Abitur, Praktikum, Jurastudium, Parteieintritt, höheres Beamtentum, Politikerkarriere – und einem kleinen Ausflug in den Journalismus, der aber irgendwie nicht gefruchtet zu haben scheint.
Es sind Passagen mit nur leicht anklingender Nostalgie und für die nicht gerade vor 1960 geborenen eine Art Geschichtsstunde durch die deutsche Politik, bei der der eine oder andere (beispielsweise der Autor dieses Textes) auch schonmal Wikipedia zu Rate ziehen muss, um herauszufinden, dass es vor Putins Kumpel Gerhard Schröder auch mal einen gleichnamigen CDU-Politiker und Verteidigungsminister gab.
Ähnliches gilt auch für Schäubles Anfangszeit in der Politik, in der wir aber mit Namen konfrontiert werden, die man heute noch kennt – einschließlich Schäubles erstem bête noire, seinem langjährigen Erzfeind Franz-Josef Strauß, von dem er so wenig hielt, wie von so gut wie allen weiter folgenden CSU-Politikern – was man nicht ausschließlich auf süddeutsche Lokalrivalität zurückführen sollte.
Hier beginnt der Autor Schäuble aber mit einer literarischen Unsitte, die sich noch gute 500 Seiten weiter durch das Buch ziehen soll: den eigenen Respekt vor der Person zu betonen und den ihm gegenübergebrachten Respekt, der selbst von politischen Kontrahenten oder Deutschland gegenüber nicht sonderlich freundlich eingestellten internationalen Politikern kam. Man glaubt ihm dies durchaus – Schäuble war ein ernstzunehmender Gesprächspartner, aber fair, aufgeschlossen und höflich (letzteres, wenn er wollte). Es ist die ständige Erwähnung des Respekts, die beim Lesen etwas nervt, aber dadurch entschuldet werden kann, dass Schäuble wusste, dass der Kreis sich schließen würde – seine Bezeichnung für sein Ableben, das er lange erahnte. Nicht ohne Grund: er hatte seine erste Krebsdiagnose schon 2006.
Mit der Ära Kohl wird es wieder spannend, da Schäuble ins Kanzleramt aufstieg und von Helmut „Birne“ Kohl aufgrund des Gegenseitigen Vertrauens enorm protegiert wurde, was Schäuble mitnichten verschweigt.
Ab 1982 gehörte er zum engsten Kreis um den Kanzler und wurde in so gut wie jede wichtige Entscheidung eingebunden. Nur, nach Schäubles Aussage, nicht in die „schwarzen Kassen“, deren Größe er in diesem Buch zwar erstmals einschätzend benennt, die aber im generell erwarteten Bereich (deutlich mehr als zugegeben wurde) bleibt.
Verbriefte Geschichte beweist, dass Schäuble für Kohl ganze Arbeit leistete – wer in der Partei und damit in Deutschland etwas bewegen wollte, ging erst zu ihm, um das machbare auszuloten und erst dann zum Kanzler, wenn vonnöten. Koalitionszoff, Steuerreform, Verhandlungen mit dem „anderen Deutschland“ – Schäuble war zur Stelle und bewegte bemerkenswert viel und seine Erzählungen aus den 80ern bis hin zur Wiedervereinigung liefern die schönsten Anekdoten des Buches – einschließlich „geheimer“ Treffen mit Alexander Schalck-Golodkowski, dessen Rolle für die DDR ihrem Ausverkauf gegen Devisen zuträglich sein sollte.
Dass Kohl sich im Laufe der Zeit vom Förderer zu seinem zweiten bête noire entwickeln sollte, ist der spannendste Teil des Buches, bei dem der Autor – im Gegensatz zu seiner späteren „Chefin“ Angela Merkel – sein Missfallen deutlich ausdrückt.
Schäubles Erinnerungen an die 90er wiederum beginnen mit einem Knall – beziehungsweise drei Schüssen, von denen ihn zwei trafen (die dritte fing sein Leibwächter ab) und lebenslang in den Rollstuhl befördern sollten.
Hier wird das Lesen schmerzhaft, weil wir Schäuble auf den vorherigen 250 Seiten als willensstark, vital und körperlich fit kennengelernt haben – wovon er glücklicherweise nur letzteres eingeschränkt verlieren sollte. Dass ein Politikausstieg für ihn fast noch tragischer gewesen wäre, als die Querschnittlähmung, gibt er offen zu. Er stürzte sich wieder in die Arbeit – und obwohl das Verhältnis zu Kohl immer schwieriger wurde, kam er durch die 90er relativ gut durch. Wohl auch, weil die 90er für uns Deutsche im Rückblick eine langweilige Dekade war. Niemand, selbst ein AfD-Wähler, würde mit einer Zeitmaschine nach 1933 zurückfliegen wollen – bei 1993 sieht das anders aus.
Interessant ist, dass Schäuble sich in dieser relativ ruhigen Zeit mit den Themen beschäftigte, denen wir heute verzweifelt hinterherrennen: dem Umweltschutz und der Klimaerwärmung, die ihn umtrieben, die er aber nicht durch Verzicht bekämpfen wollte, sondern durch Investition und Innovation („Ich äußerte damals meine Überzeugung, dass sich weder Flugpreise noch die Kosten der Automobilität in einem vernünftigen Verhältnis zur Ökobilanz bewegten.“) Der deutschen Identität. „Einfach übertragen kann man es nicht, aber man sollte umgekehrt auch nicht international als Moralerzieher auftreten und das Nationalgefühl anderer als ewiggestrig abqualifizieren.“ Und der illegalen Migration, die er als kommendes Problem sah und die es zu ordnen galt.
Etwaige Kanzlerambitionen (die er bestreitet, wenn auch nicht ganz glaubhaft) waren vom Tisch, als er seinen Rücktritt von als Partei- und Fraktionsvorsitzender bekanntgab: „Nicht einzelne Fehler, die ich fraglos gemacht hatte, führten zu diesem Rücktritt, sondern die Rolle, die ich als Politiker in der Ära Kohl gespielt hatte – mein Weg war zu eng mit Kohl verwoben, um dem notwendigen Neuanfang glaubwürdig ein Gesicht geben zu können.“ Als Nachfolgerin entschied er sich für eine (noch) junge Parteifreundin: Angela Merkel – eine Entscheidung von der er sagt, er „sollte sie zu keinem Zeitpunkt bereuen. Angela Merkel war ein Glücksfall.“
Und nun kommen die 2000er, bei denen man viel Interessantes erwarten sollte. Aber es bleibt in großen Teilen aus – und deshalb wird auch diese Besprechung hier langsam ihr Ende finden – die Ereignisse sind ja noch in Erinnerung.
Auf Merkel lässt Schäuble nichts kommen, auch wenn er ihr eine Art von Unentschlossenheit vorwirft, dies aber sehr milde tut. Bei den wichtigsten CDU-Themen dieser zwei Dekaden, der Migrationskrise und dem Machtverlust der CDU, verweist Schäuble auf zwei Bücher des stellvertretenden Chefredakteurs der WELT, Robin Alexander: „Die Getriebenen“ und „Machtverfall“. Zwei großartige Bücher, die absolut zu empfehlen sind und jede Nische dieser komplexen Themen beleuchten. Dies aber aus oft anonymen Quellen, da Alexander so gut vernetzt sein, dass man fast vermuten möchte, er könne sich in eine Fliege verwandeln und ins Kanzleramt schwirren, um dort von der Wand aus alles zu beobachten. Von jemandem zu hören, der offiziell im Raum war, versagt uns Schäuble leider. Was bei einem Buch von der Länge nicht wirklich sinnvoll erscheint und bei einem Preis von €38 auch ohne Kaufempfehlungen auskommen sollte. Zwar geht er die Migrationskrise durchaus genau und penibel an, aber Merkels Brandbeschleuniger von 2015 ist ihm nur wenige Sätze wert, die auch noch halbwegs positiv ausgelegt werden können – sein Recht, aber sie stehen im krassen Gegensatz zu allem, was er sonst zu dem Thema schreibt. Er enthüllt auch, dass er 2015 eine Putsch gegen Merkel anführen sollte – aber das ist bekannt, er gibt nur den Anstiftenden bekannt: Edmund Stoiber.
Auch der Atomausstieg wird es deutlich generell und generös der Kanzlerin gegenüber abgehandelt – nur bei der Griechenlandkrise (es waren ja eigentlich zwei mit kurzer Getränkepause) läuft Schäuble noch einmal zu erzählerischer Höchstform auf. Viel Wert legt er außerdem auf die von ihm initiierte Islamkonferenz, die sich als Rohrkrepierer entpuppen sollte.
Statt die letzten 200 Seiten des Buches mit dem zu füllen, worauf sicherlich viele Leser sehnsüchtig gewartet haben, kommt nun einiges an Humor in den Vordergrund – allerdings Schäuble-Style, also so trocken, dass man fast drüberliest. „Das ist unmittelbar einleuchtend, denn gegen Selbstmordattentäter hilft die Strafverfolgung relativ wenig“, ist ein solcher Satz, der erst dann einleuchtet, wenn man begreift, dass man an der Wand klebende Fleischfetzen schlecht auf die Anklagebank setzen kann. Anderes erschließt sich leichter, wie die folgende Kurz-Anekdote: „Manchmal wurde es in der aufgeheizten Atmosphäre geradezu komisch, etwa wenn Hans-Christian Ströbele, der den Kreuzzug gegen die Videoüberwachung anführte, bei der Suche nach seinem am Reichstagsgebäude gestohlenen Fahrrad auf Videobänder des Bundestagspolizeidiensts zugreifen wollte.“
Autobiografien, insbesondere die von Menschen, die ihr Lebensende klar vor Augen haben (nur Tage vor seinem Tod flog Schäuble nach Berlin, um die Endfassung des Buches abzunehmen), werden immer ein Abschied sein, aber auch ein gewisses Maß an Weißwascherei beinhalten. Das dürfte bei Schäubles „Erinnerungen“ nicht anders sein. Aber im Gegensatz zu Angela Merkels angedrohter Autobiografie, dürfte dies nicht zu einem bundesweiten Lieferengpass in Baumärkten geführt haben.
Schäuble nimmt hier Abschied. Vom Leben, von Deutschland, von uns – seinen Bürgern. Gekonnt, dezidiert, verdeckt humorvoll. Ja, auch in einer gewissen Länge. Aber da dies die letzten Worte sind, die wir von ihm jemals vernehmen werden, kann und sollte man auch jedes wertschätzen.