ZEN in der Kunst des Absahnens – Kurzkrimi anlässlich des Tags der Arbeit

Mein  folgender Kurzkrimi erschien 2011 in der Anthologie „Schicht im Schacht. Maloche, Macker und Moneten“, heraugegeben von H.P. Karr, Taschenbuch, Hillesheim: KBV-Verlag 2011. Alle Rechte bei mir. Ausdrucken und in Ruhe lesen? Mehr im Blog zum Buch und im WDR-Interview.

zenAusatmen, sagte sie sich, Ausatmen nicht vergessen. Wozu sonst das ganze Zen-Sitzen, seit fast einem Jahrzehnt jeden Morgen Zazen. Und danach die Qigong-Übungen. Also, komm, die Ruhe bewahren, atme vollständig aus. Genau wie Suzuki Rôshi geschrieben hatte:

Es ist sehr wichtig, sich um die Ausatmung zu kümmern. Wenn wir immer versuchen, lebendig und aktiv zu sein, geraten wir in Schwierigkeiten. Wenn wir aber ruhig sein oder uns in Leere auflösen können, dann wird ganz von selbst alles in Ordnung kommen. Buddha wird für uns sorgen.

Und so ist es auch gekommen. Nachdem sie für sich selbst gesorgt hatte, hatte auch Buddha für sie gesorgt – und gar nicht mal schlecht: dreimal in den letzten zehn Jahren. Dreimal war es überraschend gut gelaufen, zu gut vielleicht, mag sein. Trotzdem, irgendwann in den nächsten Wochen würde sie es nach zwei Jahren wieder tun, in Duisburg diesmal. Noch war das Geld nicht knapp, aber genau darauf wollte sie nun wirklich nicht warten.
Sie hatte den Platz noch sorgfältiger gewählt als sonst. Hatte die Archive der Lokalzeitungen durchstöbert, hatte Berichte über Banküberfälle, Beutesummen, häufigste Tatzeiten und Aufklärungsquoten studiert, die örtliche Kriminalstatistik ausgewertet und sich dann präzise entschieden.
Für die Hauptsparkasse an der Kö, eine Sparkasse, die eine Beute von mehreren hunderttausend Euro versprach. Eine Sparkasse, deren Sicherheitsvorkehrungen lange so schlicht ausgesehen hatten, dass ein Überfall kleinen Idioten immer mal wieder aussichtsreich vorgekommen war. Außerdem wurde da gerade umgebaut. Viel los hier an der Königstraße, ziemlich viel Durcheinander so nah am neuen Forum Duisburg, European Shopping Mall 2010. Mit der Goldenen Himmelsleiter davor, Kunst am Bau, muss so 60 Meter hoch sein, mit Blattgold feuerveredelt, hatte sie gelesen.
Sie saß mit ihrem Buch am Café Dobbelstein, heute auf der Terrasse draußen, ganz nah bei der Sparkasse, das Wetter war mild. Wenn’s kühler war, schaute sie von drinnen durch die große Fensterfront. Seit Wochen saß sie so, drinnen oder draußen, sah scheinbar desinteressiert der ruhelosen Menge zu, ohne je den Eingang der Sparkasse aus den Augen zu verlieren. Nur eine Frage der Zeit, das Ganze. Zeit, in der sie mit offenen Augen meditierte oder nebenbei las. Heute lag Sunzi vor ihr, Die Kunst des Krieges: Oh, die göttliche Kunst der Geschicklichkeit und Verstohlenheit! Durch sie lernen wir unsichtbar zu sein, durch sie sind wir unhörbar, und damit halten wir das Schicksal des Feindes in unserer Hand.
Das gefiel ihr.

*

Was schleicht denn der Security-Mann da hinterm Schalter rum? Komisch… Egal. Satte fünf Minuten steh ich mir jetz schon die Füße platt. Sparkasse. Gut. Für Duisburg. Oh Mann. Ich will doch bloß wechseln, die 1.500 Franken, die mir der Holländer für den geklauten Golf 1.9 TDI cash auf die Hand geblättert hat. Hoffentlich klingelt’s gleich nich vor der Kasse, falls die hier einen Metalldetektor oder sowas haben. Bingo, Mr. Lucky, die schieben mir glatt nen Raubversuch in die Schuhe, bloß, weil ich ne schlappe Gaspistole im Gürtel hab. Aber die brauch ich jetz, wegen Hakki. Dem schuld ich noch sechstausend. Ich hab aber keine sechs Mille übrig, Scheiße bloß, dass Hakki meist hält, was er verspricht.
„Ich schneid dir die Eier ab, Lucky, dat gibtn Ommlett vonnem sehr unglücklichen Hähnchen. Du linkst mich nich ab, du nich. Sechstausend oder du kanns deine eigenen Klöten im Mixer quirlen.“
„Hey, immer easy, Hakki!“
Aber dann hab ich lieber die Kurve gekratzt.
Und jetzt steh ich hier und warte mir den Arsch ab. Krass, was die da vorne machen, kann echt nich wahr sein. Total abgefahren! Packt der Hilfssheriff von der Security doch glatt ein Bündel Bares nach dem anderen aus irgendeinem Scheiß-Tresor unterm Kassentisch in seinen Transportkoffer. Und ich darf warten. Beinhart. Dass die Kunden das überhaupt zu sehen kriegen. Denkt denn hier gar keiner an sowas wie Sicherheit?

*

Die Frage war eigentlich nur, wo es diesmal passieren würde. Starcke war ein alter Bulle, nicht nur der Körpergröße nach. Und er hatte die Ermittlungsergebnisse nicht ganz so in seinen Berichten wiedergegeben, wie er sie für sich selbst verdaut hatte.
Man konnte drauf kommen, man musste aber nicht.
Da waren auf der einen Seite alle Banküberfälle der letzten Jahre, auch in den Nachbarstädten. Aber nur zweimal innerhalb von 48 Stunden in der Umgebung der überfallenen Bank dann ein Mord, zweimal eine männliche Leiche.
Von wegen: weltweite Informationsvernetzung. Der Computer jedenfalls hatte ihm nicht geholfen. Eher schon der Zufall und dieses gewisse Gespür, das Starcke immer mal wieder auf die Sprünge half. Nach einem Kantinengespräch mit Kollegen vom Mord war ihm aufgegangen, dass auf zwei der Leichen auch die Täterbeschreibungen zweier Banküberfälle passen könnten, ziemlich gut sogar, bis in Details der Kleidung. Niemand sonst war bisher auf die Ähnlichkeiten zwischen Bankräubern und Mordopfern gestoßen. Bei den Toten war nie Geld gefunden worden, sie selbst schienen die Opfer von Raubüberfällen zu sein.
Schienen.
Starckes Intuition aber sagte ihm was anderes: Irgendjemand entsorgte hier Bankräuber, aber nicht in die grüne, gelbe oder lila Tonne. Hier hatte jemand seine ganz eigenen Vorstellungen von Mülltrennung, und wenn ihn nicht alles täuschte, schon seit einigen Jahren. Die Frage war nur, wo es wieder passieren würde. Und wann.

*

Das mit dem Warten war so eine Sache. Zum Beispiel hier im Café Dobbelstein. Sie wartete, beobachtete, jeden Tag um die gleiche Zeit, knappe zwei Stunden, mal im Café, mal draußen. Wenn wir aber ruhig sein oder uns in Leere auflösen können, dann wird ganz von selbst alles in Ordnung kommen.

Ihre Ausstrahlung hatte sich verändert. Seitdem sie nicht mehr so auf Geld achten musste, trat sie sicherer auf, zog an, was zu ihr passte. Sogar die Perücke wirkte kess, chic, hatte nichts von dem brünetten Wischmopp, den sie 2001 nach der Chemo tragen musste. Ebenso frech wie die Designerbrille mit den Fenstergläsern. In der letzten Zeit mochten die Männer sie wieder, das spürte sie.
Genau deshalb: bloß keinem schöne Augen machen. Nicht zu auffällig wirken, alles vermeiden, was auch nur ansatzweise sexy war, damit nicht irgend so ein grauer Panther mit seinem Seniorenteller näher an sie ran rückte. Nicht mal die Kellnerinnen sollten später viel über sie sagen können.
„Ein Gast ja, sicher, die war immer mal wieder hier, blieb so ihre Stunde, zwei, saß meist am Fenster, las viel in ihrem Buch. Vielleicht ne Selbständige, konnte sich auf jeden Fall ne längere Pause leisten, manchmal aß sie was, schien oft irgendwie zu träumen.“

*

Hakki liegt mir sowas von im Magen. Ich also neulich rein da in dieses Eckgeschäft, Angelgeräte, Sportwaffen, Dart, Strick- und Bügelsysteme. Das Schild schon ein paarmal in der Fensterecke gesehen: Freie Waffen in starker Markenqualität. Ab 18 Jahre. Gefragt, was sie mir denn für ne Gaspistole empfehlen könnten, welche von denen wie ne echte Pistole aussieht und so. „Fast alle Waffen sind Kopien von Markenpistolen, R-e-p-l-i-k-a“, stöhnte der Verkäufer.
„Was kann denn damit im schlimmsten Fall so passieren, ich mein, rein selbstverteidigungsmäßig?“
„Dass Sie jemanden töten. Ne Gaspistole direkt am Kopf angesetzt, kann töten. Kommt immer drauf an, wie weit man weg steht und wo man die Waffe ansetzt.“
Ich kaufte die Walther P 99, brüniert. Sieht verdammt cool aus, das Ding.

*

Im Grunde war es leicht. Starcke war nicht allein seinem Gefühl gefolgt, sondern auch seiner Erfahrung. Das Gesetz hatte schließlich mehr und bessere Augen als Starcke mit seinen fünf Dioptrien. Sechs der überfallenen Banken lagen im Blickfeld von Verkehrsüberwachungskameras. Klar, daran hatten die Kollegen, die die Banküberfälle bearbeiteten, auch längst gedacht und sich nicht nur die bankinternen Videos, sondern auch die aus der Verkehrsleitzentrale besorgt. Routine. In einem Fall hatten sie einen unmaskierten Täter auf den Videos erkennen, identifizieren und kurze Zeit später verhaften können. Glückstreffer. Die Bilder der anderen Überfälle: ein paar unscharfe Aufnahmen vermummter Räuber, die durch den Aufnahmebereich der Kameras drifteten.
Aber Starcke ging es nicht um Bilder der Bankräuber. Starcke ging es um den Entsorger. Stundenlang hatte er sich wieder und wieder die Videos angesehen. Fast hatte er geglaubt, dass ihn sein Gespür getäuscht hatte, dann bemerkte er sie. Eine Gestalt, die tatsächlich auf zweien der Videos, am Rande zwar, aber deutlich erkennbar zu sehen war. Jemand, der die gleiche Richtung einschlug wie die Räuber. Nachdem er die Ausschnitte wieder und wieder vergrößert und bearbeitet hatte, sah er das Gesicht einer Frau in den Vierzigern.

*

Das allererste Mal war es Zufall gewesen. Zufall? Wenn wir überhaupt nichts erwarten, dann können wir wir selbst sein. Das ist unsere Weise, voll und ganz in jedem Augenblick zu leben.

Sie hatte es zunächst nur aus den Augenwinkeln und von Ferne gesehen. Vor dem Nachttresor der National-Bank wollte ein älterer Herr gerade eine Geldbombe einwerfen, als ein Typ die Dezember-Dunkelheit ausnutzte, eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, und dem Mann eine Pistole an den Hals drückte, ihm die Box entriss und davonrannte. Dass sie ihm folgte, im leichten Joggingtrab, wurde ihr erst klar, als sie schon ein paar hundert Meter hinter sich gebracht hatte. Überrascht registrierte sie, dass sie tat, was sie tat.
Der Räuber war in einer Kleingartenanlage verschwunden, hatte sich in einer der Lauben verkrochen, und sie tat, was sie schon immer gut konnte: auf Distanz bleiben, warten. Lag in der menschenleeren Schrebergartenkolonie hinter Büschen auf der Lauer bis weit nach Mitternacht. Als sie dann um die Laube schlich und einen Blick durchs Fenster warf, sah sie ihn drinnen stockbesoffen inmitten von Bier- und Wodkaflaschen auf einer Couch liegen. Und auf dem Tisch die geknackte Geldbombe, Bündel von Geld, seine Pistole, ein Schalldämpfer. Kein Anfänger der Mann, und nicht ungefährlich. Sie wartete noch eine halbe Stunde, dann holte sie alles still und leise aus der Hütte. 14.000 Euro. Und die Pistole.
Erst daheim fiel ihr ein, was ihr Meister einmal nach einem Sesshin gesagt hatte:

Was auch immer geschieht und ob ihr es nun für gut oder schlecht haltet, untersucht es genau und seht zu, was ihr herausfindet. Dies ist die grundlegende Einstellung. Manchmal werdet ihr Dinge ohne einen bestimmten Grund tun, wie ein Kind, das ein Bild malt, ob es nun gut oder schlecht ist.

Die Idee zu viel mehr war ihr nach dem Existenzgründungsseminar „Innovation hart am Markt“ gekommen. Nachdem ihre Lokalredaktion geschlossen worden war, dachte sie daran, ein eigenes Journalistenbüro aufzumachen. Obwohl sie die Stadt und ihre Politik, Politik überhaupt, nur noch zum Kotzen fand. Nach einem Seminartag stolperte sie in der U-Bahn lesend über die Brecht-Zeile „Was ist der Überfall auf eine Bank gegen den Besitz einer Bank“, und da wusste sie plötzlich ganz genau, wie es mit ihr weitergehen würde. Brecht neu denken, so hieß die Devise: Warum eine Bank überfallen, wenn man doch die Bankräuber ausnehmen konnte? Der Gedanke nistete sich ein. Den Mumm für einen eigenen Überfall und das ganze Risiko hätte sie nie gehabt. Viel besser gefiel ihr, irgend so einem kleinen Macho oder selbsternannten Profi den Hals umzudrehen und die Beute mitgehen zu lassen. Das war etwas ganz anderes, viel sicherer.
Was auch immer geschieht und ob ihr es nun für gut oder schlecht haltet, untersucht es genau und seht zu, was ihr herausfindet.

Die Beute aus der Laube verschaffte ihr endlich die Zeit, genau zu schauen, was geschah. Und damit nichts nur zufällig wieder geschah, hatte sie sich bestens vorbereitet. Die Volksbank in Ratingen, irgendetwas daran war ihr perfekt vorgekommen. Sie behielt die Zweigstelle erst lange im Auge, hob dann und wann etwas am Automaten ab, sah sich alles genau an. Die war reif, überreif. Also fing sie an, die Bank systematisch zu beobachten. Nach drei Wochen kamen ihr Zweifel, aber trotzdem machte sie sich Tag für Tag wieder auf den Weg. Und hatte Glück. Als sie zwei Tage später die 43.000 Euro zählte, die sie einem völlig verblüfften Gangsterdarsteller in seinem Souterrain abgenommen hatte, wusste sie, was sie wollte. Endlich leben, als Künstlerin leben, am besten als Lebenskünstlerin.

*

Hier is heller, freundlicher, nich so ätzend wie in meiner Dödelsparkasse in Styrum, wo die Schaltertante jedesmal ausrastet, wenn ich mehr Dispo will.
Aber hier ist es echt edel. Die Kostümbräute sehen scharf aus mit ihren Blusen und Knackärschen. Geld macht eben doch geil.
Und die Kohle liegt noch immer in dem Koffer da vorn. Neun, zehn Meter von hier. Schwer Stress da bei den Bankheinis und der Security. Irgendwas läuft bei denen nicht so, wie es laufen sollte. Aber gleich könnte was ganz Großes laufen, das hab ich im Urin. Mich kennt hier doch kein Mensch. Und die Walther hab ich auch dabei.

*

Starcke hatte das Bild der Frau nochmal am Computer bearbeitet und das Bestmögliche aus dem Videomaterial herausgeholt. Dieses Gesicht würde er jetzt überall erkennen, egal unter welchem Make-up, unter welcher Perücke oder hinter welcher Brille sie sich versteckte. Er fragte sich, wie sie es zweimal geschafft hatte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein – aber schließlich war ja auch er zum richtigen Zeitpunkt in der Kantine gewesen, als die Kollegen vom Mord gerade ihre Altfälle durchgingen.
Da nichts darauf hindeutete, dass die Frau bald einen Fehler machen würde, blieb ihm nichts, als sie selbst zu suchen.
Wer sie war, wo sie wohnte, das würde er rausfinden. Die Videos, biometrische Erkennung, zur Not auch diese dubiose Geo-Profiling-Software aus den Staaten, mit der man Bewegungsmuster und Lebensräume von Tätern erschließen konnte, so schwer würde das nicht. Er würde sie finden, ihre Gewohnheiten studieren, ihr beim Warten zuschauen, soweit seine Zeit das zuließ. Mehr müsste er ja nicht tun. Sie gelegentlich besuchen auf ihrem neuen Posten nahe einer Bank irgendwo hier in der Umgebung. Nahe einer Bank, die überfällig war für das nullachtfuffzehn Überfall-Szenario eines gewöhnlichen Arschlochs, das gar nicht ahnte, dass es keine Chance hatte.
Nicht gegen sie und schon gar nicht gegen ihn.
Und wenn sie dann zuschlug, würde er es erfahren, so oder so, live oder aus den Nachrichten.

*

Sie hätte nie gedacht, dass sie zu Gewalt fähig sein könnte. Aber dann war es ganz einfach gewesen.

Waffen sind unheilbringende Gegenstände. Der Weg des Himmels hasst sie. Sie zu gebrauchen, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt – auch das ist der Weg des Himmels.

Sie hatte sich jetzt immer besser vorbereitet, mit alten Fahrrädern, einer Vespa und ihrem Kleinwagen in der Nähe der Banken, die ihr bei ihren Recherchen und Stadtbummeln als gedeihlich erschienen waren. Damit konnte sie jedem Typen folgen, egal in welche Richtung der flüchtete. Und, bis auf einmal, hatte es auch tatsächlich geklappt.

Sie hängte sich an die ahnungslosen Bankräuber, bis die ihre Wohnung oder einen Unterschlupf erreicht hatten. Dann hieß es: warten.
Nach dem nächtlichen Anfängerglück war nur einmal eine Verfolgung gescheitert. Zweimal jedoch hatte sie die Typen jäh überrascht, in Ratingen zuerst und dann in Bottrop-Boy, und ihnen mit ihrer schallgedämpften Pistole Löcher in die Körper geploppt. Sie hatte nichts gegen die Typen, sie hasste sie nicht, sie waren ihr nicht mal gleichgültig. Sie standen schlichtweg nur zwischen ihr und dem Geld.
Plopp. Plopp. Es ging so leicht. Sie hatte einfach keine Lust mehr, sich anzustrengen, sich freundlich zu geben, das Frauchen, das Weibchen zu spielen, nur um mit viel Glück mit 46 Jahren in irgend so einem lausigen 2.000-Euro-Brutto-Job zu enden.
Stattdessen war das hier ihr Leben geworden: Warten, sehr lange warten, beobachten, meditieren, lauern, verfolgen, das leise Plopp des Schalldämpfers und sich dann ums Geld kümmern. Ein immer wiederkehrender Ablauf, beharrliches Üben… Zen in der Kunst des Absahnens… Wu wei, Geschehenlassenkönnen, das Handeln entsteht spontan in Einklang mit dem Dao, nur so wird das Notwendige getan, leicht und mühelos, niemals mit blindem Übereifer… ein Zustand der inneren Stille, der zur richtigen Zeit die richtige Handlung ohne Anstrengung des Willens hervortreten lässt.

*

Wenn ich das jetzt richtig sehe, dürfte es hier noch kein gutes Videobild von mir geben. Die Kameras haben mich bisher nur von der Seite erwischt, der Dreitagebart, die Baseballkappe, die Jacke mit dem dicken Kragen, viel is da nich zu sehn. Glück gehabt, Mr. Lucky.
Das Geld liegt gar nich auf der Straße, das liegt da vorne, Mr. Lucky, in dem Koffer da, immer noch. Die haben voll recht mit ihrer Werbung, die Scheißbanken. Wir machen den Weg frei. Wir helfen Ihnen, den Sprung zu wagen, den Sprung in die Freiheit. Aber genau. Eigentlich … die Gaspistole … ein paar Meter bis zum Schalter, hechel, hechel, ein lockerer Jump über die Barriere … kassieren und dann ab durch die Mitte … auf der Königstraße rein in die U-Bahn-Gänge … irgendne Bahn nach Meiderich oder Huckingen kommt da immer … einfach cashncarry, echt korrekt … Auf diese Weise entwickelt sich zwischen der Bank und Ihnen eine Partnerschaft, die weit über eine übliche Kunde-Bank-Beziehung hinausgeht. Eben, sag ich doch, ihr Laberfritzen.

*

Nein, sie hatte den nicht übersehen.
Für einen Moment dachte Starke, sie hätte gar nicht mitbekommen, dass da gerade einer in der Hauptstelle der Stadtsparkasse gegenüber dem Café abgeräumt hatte. Sicher, es kam überraschend. Aber wofür beobachtete sie schließlich von der Terrasse aus den Eingang, die Fensterfront der Sparkasse, hinter der der Kassenbereich gut zu übersehen war? Aber nein, sie hatte es nicht übersehen, sie war schon aufgestanden und hatte sich etwas abseits gestellt, bevor das Jüngelchen mit dem Metallkoffer eilig die Sparkasse verließ. Es schien leicht für sie, ihm in die U-Bahn zu folgen, sie musste sich nicht einmal auffällig benehmen. Sie stand einfach viel näher am Abgang zur U-Bahn-Station „König-Heinrich-Platz“, wo auch Starcke sich verkroch, nachdem er befürchtet hatte, dass sie ihn heute auf der Terrasse noch bemerken würde.

Glück gehabt, alle beide.

*

Beinahe hätte sie es nicht gesehen. Aber dann war irgendwo auf der Terrasse eine Tasse auf den Steinboden gefallen, sie hatte aufgeschaut und durchs große Fenster der Bank gesehen, wie ein Typ da drüben seelenruhig aus der Schlange vor einer Kasse ausscherte, über die Theke sprang, mit einer Pistole fuchtelte und sich einen Koffer griff. Gottseidank hatte niemand versucht, den Helden zu spielen.
Geld auf den Tisch, weg von der Terrasse, er lief ihr dann fast über den Weg, Richtung U-Bahn-Abgang. Die Chance zu nutzen, bevor sie auftaucht, bedeutet den gegnerischen Geist sorgfältig zu erfassen und eine passende Bewegung zu machen, bevor er sich zu einer eigenen entschließt. Hoffentlich war da überhaupt was drin, in dem Koffer. Es war leicht, ihm zu folgen, er hatte es eilig, klar, versuchte aber, nicht zu rennen. Die nächste Bahn ließ eine geschlagene Minute auf sich warten. Er stieg im Gedrängel vorne ein, sie zwei Türen weiter. Viel zu viel los, als dass da jemandem irgendetwas aufgefallen wäre. Und auf den Videos der DVG würde sie nichts sein als eine von vielen, Erika Mustermann eben.
Auch nach der Fahrerei lief alles glatt. Der Hansdampf unter der Baseballkappe fühlte sich ziemlich sicher, nahm sie nicht einmal wahr, nachdem er ausgestiegen war. In einem Hauseingang hatte sie später die Jacke gewendet und die Perücke abgenommen. Es dunkelte bereits, als er vor einem Haus stoppte. Er verschwand in der Haustür, abgewracktes Sechsfamilienhaus, das musste Meiderich sein hier, oder? Kurz danach ging das Licht an, rechts oben. Er war kurz zu sehen, als er die Vorhänge zuzog, wahrscheinlich um in Ruhe den Koffer knacken zu können.

*

272.000! Oh Mann! Mannomann!
Mir is einfach die Sicherung durchgebrannt. Programmabsturz, Filmriss. Null Muffe, ich hab’s einfach getan. Das glaubt doch keiner! Das kann doch nich so leicht sein, echt easy, aber mir is keiner gefolgt, soviel is sicher. Außerdem die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen und den Jackenkragen hochgeklappt. Die können absolut nix von mir auf Video haben, Fingerprints sowieso nich, weil ich absolut nix angefasst habe außer dem Koffer. Und der ist hier.
272.000, für anderthalb Stunden Stress. So muss sich der Big Mäc bei VW fühlen. So wie Mr. Lucky. Ich halt’s nich aus. Jetz bloß keinen Fehler machen. Schnell weg aus Deutschland. Gleich morgen früh. Irgend son Last-Minute-Trip, und tschüss! Sich in Rio innen Schatten setzen und erst mal deutsche Zeitungen checken, was die so bringen, von wegen „Kofferklau in Duisburg“. Hoffentlich sind die Banknoten nich registriert. Falls alles ruhig bleibt, vorsichtig aus Rio zurück, falls nicht dann nicht. Spätestens in drei, vier Jahren langsam wieder ranpirschen: Gardasee, Chiemsee, Baldeneysee, Wedausee … bis man in aller Ruhe nach nem MSV-Spiel mit den alten Kumpels wieder einen schlucken gehen kann.

*

Nach Jahrzehnten Polizeiarbeit was es für Starcke kein Problem an ihr dranzubleiben. Sie selbst war mit Dranbleiben so beschäftigt, dass sie nicht bemerkte, was hinter ihr vorging. Der Typ schien tatsächlich ein Ziel zu haben, so sicher fühlte der sich.
Sie hatte ihn am Haken, das war klar, aber wie würde sie weitermachen? Und wann? Gleich heute Abend oder erst heute oder morgen Nacht? Viel Zeit durfte sie sich nicht lassen, damit er die Beute nicht zu gut verstecken konnte oder sie ihm vielleicht doch noch auffiel. Starcke wartete. Sie ging nicht weg, drückte sich herum, später in einem Hauseingang wechselte sie das Outfit.
Starcke wusste jetzt, dass sie es bald tun würde, und diesmal wollte er lieber in ihrer Nähe sein, war ja sowieso sein Job, eigentlich.

*

Sie war die vergammelte Treppe hochgeschlichen, hatte kurz vor der richtigen Wohnung gewartet, das Blüschen ein bisschen aufgeknöpft, ihr schönstes Lächeln vor den Türspion gehalten und dann geklingelt.
Dieses erschrockene Kindergesicht, als er sie mit der Waffe sah und in den Flur zurückwich. Sie drückte ab, plopp, plopp. Aber er war verdammt schnell, schneller als sie, war zur Seite gesprungen und trat nach ihr. Sie schlug lang hin und verlor die Pistole aus der Hand. Verdammt. Er durfte nicht an die Waffe kommen. Sie trat ihm mit ihrem Schuh vors Knie, er jaulte auf, aber dann erwischte er die Pistole doch.
Das Letzte, was sie noch hörte, war ein Plopp und dann gleich noch eins.

*

Starcke hatte sie überschätzt, für kaltblütiger gehalten, als sie es war. Dass sie sich so leicht von dem Kerl überrumpeln ließ, wunderte ihn.
Von der halboffenen Wohnungstür aus sah er dem Gerangel zu. Es stand nicht gut für sie. Irgendwo hatte der Bubi gelernt, halbwegs solide zu kämpfen und das ging jetzt ziemlich auf ihre Kosten. Sie stürzte hart und jetzt richtete der doch tatsächlich ihre eigene Pistole auf sie.
Starcke war längst im Flur und mit drei Schritten neben dem Jungen, der ihm den Rücken zuwandte. Trat ihm die Beine mit aller Gewalt weg, drehte ihm im Fallen die Waffe aus der Hand und hatte schon abgedrückt, ehe der Typ auf den Boden knallte. Zur Sicherheit ließ Starcke es nochmal ploppen. Der Kleine zuckte, dann lag er still. Und als sie stöhnend den Kopf bewegte, zog er ihr lieber mit dem Griff der Waffe eins über den Schädel, ehe sie die Augen aufmachen konnte.
Starke schloss die Wohnungstür ganz, zog den Typen aus dem Flur ins Wohnzimmer. Zurück im Flur setzte er sie auf, legte behutsam den Kopf an die Wand. Die Beute musste er nicht suchen, die lag in kleinen Stapeln auf dem Küchentisch. Nicht übel. Er packte alles in den Koffer. Auch die Pistole. Im Flur strich er ihr eine blutige Haarsträhne aus der Stirn. Er hatte fest zugeschlagen, aber das würde sie überstehen. Er legte ihr ein nasses Handtuch um den Hals, sie würde bald aufwachen und abhauen können.
Leise zog er die Wohnungstür hinter sich zu und verließ, ohne das Flurlicht einzuschalten, das Haus. Irgendwo da unten im Dunkeln würde er auf sie warten und darauf achten, dass sie heil nach Hause käme, heute.

ENDE…

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