Vor einigen Tagen hatte ich die ersten beiden Abschnitte der Einleitung meines neuen Publikationsprojekts über Zivilisationen vorveröffentlicht. Heute folgt das gesamte erst Kapitel, mit dem das Projekt detaillierter vorgestellt wird:
Kapitel 1: Die Vorbereitung
I
Viele Fragen (und Antworten), die in Bezug auf den Prozess der menschlichen Zivilisation von Elias für relevant erachtet wurden, sind mir relativ gleichgültig. Die narrative Haltung, mit der Elias speziell Entwicklungen beschrieb, die sich seit dem Mittelalter in Europa ereignet hätten, ist mir weitgehend fremd. Beachtenswert kann allerdings sein, dass es ihm um die Beschreibung von menschlichem Sozialverhalten und etwaigen Veränderungen ging. Leider mischen sich immer wieder psychologische Spekulationen dazwischen, mit Bezug auf andere Schriften, in denen erzählt und spekuliert wird. Die Vorgehensweise erinnert an ein Spiel: an Stille Post. Im zweiten Kapitel erörtert er z.B. das Wort ‚Civilité‘ im Kontext von Erasmus von Rotterdams Erziehungsschrift ‚De civilitate morum puerilium‘ (vgl. Elias, N., 1976, Bd.1, S. 66-75). Elias war durchaus klar, dass sich historische Veränderungen vollzogen haben: „Mit vielem überschreitet er (Erasmus, d. Autor) unsere Peinlichkeitsschwelle“ (vgl. ebd. S. 73). Doch waren die Erörterungen des Erasmus’ gesellschaftlich repräsentativ? Eine Beschreibung von sozialen Veränderungen anhand von einzelnen, von ausgewählten Schriften, kommt für mich nicht in Betracht. So gerne man den konkreten Prozess der Zivilisation erfassen würde, methodisch blieben markante Mängel.
Einen ausdrücklich nicht-akademischen Weg hatte ich in ‚Zweifel an der Kultur. Essayistische Notizen‘ eingeschlagen, einem Werk, das speziell Worte ‚Kultur‘ seit den römischen Anfängen in kritischer Weise historisch verfolgte. Außer verschiedenen umgangssprachlichen Sammelbegriffen, darunter auch und in besonderer Weise Metaphern, hatte ich seit Samuel von Pufendorfs lautlicher Übernahme im dreißigjährigen Krieg eine Tendenz bemerkt, die Worte in politische Kontexte zu stellen (vgl. Matern, R., 2013 (b)).
In der vorliegenden Schrift ist die publizistische Ausrichtung eine andere, sie ist ausdrücklich philosophisch. Und weil die Datenlage aus methodischer Sicht miserabel ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als mein Forschungsinteresse anzupassen. Gesucht wird eine Fassung eines Wortes ‚Zivilisation‘, die nicht dem umgangssprachlichen Sammelbegriff folgt, auch nicht mit einer speziellen Hervorhebung von Wissenschaft und Technik, sondern die sich auf das Soziale konzentiert, auf die Menschen, ihre Relationen und ihr Verhalten zueinander, also auf die wechselnden Erzeuger der Gesellschaften und ihr Leben.
Darüberhinaus ist ein Kriterium erforderlich, dass entscheiden hilft, ab wann ein Haufen menschlicher Primaten tatsächlich eine Zivilisation bildet. Es bedarf eines gemeinsamen sozialen Merkmals, um einem undifferenzierten Sammeltrieb zu entgehen.
Mein Vorgehen ist primär ein sprachliches, indem es nach einer philosophisch angemessenen Bedeutung fragt, die ihrerseits den Bezug erläutert. Letztlich geht es sprachlich darum, zu erfahren, worauf sich ‚Zivilisation‘ in angemessener Weise bezieht. In Kauf zu nehmen ist bei diesem Verfahren freilich, dass es noch gar keine Zivilisationen von Menschen gibt, die Bezugsmenge also leer bleibt.
Die Frage nach sprachlicher Angemessenheit hängt in diesem Fall von dem Kriterium ab, das gewählt wird und zwischen Primatenhaufen bzw. -gruppen oder -herden und Zivilisationen unterscheiden hilft. Sprachliche Angemessenheit ist von der jeweiligen Sache abhängig und nicht formalisierbar. Logikern wird sie vermutlich ein Gräuel sein, aber ohne sachlich orientiertes und prüfbares Abwägen der Bezugsgrenzen von Worten lässt sich nicht sprechen, allenfalls plaudern. Die sprachliche Angemessenheit ist mit Bezug auf die Sache, also sachlich zu begründen. Eine Definition würde hingegen sprachlich leicht beliebig sein können.
II
Mit Bezug auf natürliche, nicht-metaphysische Lebewesen, ließe sich die Studie über Menschen und ihre etwaigen Zivilisationen auch ohne weiteres der Zoologie zurechnen. Eine forschende künstliche Intelligenz (KI) könnte einen solchen Weg durchaus bevorzugen. Genetisch sind Menschen sehr nah mit den gemeinen Schimpansen und den Bonobos verwandt, den Unterschied zwischen Schimpansen und Bonobos und ihren Relationen zu Menschen (vgl. Prüfer, Kay; Munch, Kasper; Hellmann, Ines; u.a., 2012, 527-531) vernachlässige ich aber in diesem Kontext. Es reicht zu betonen, dass Menschen auch nur Affen, Primaten sind. Daran würden mögliche Entwicklungen, biologisch evolutionäre als auch, umgangssprachlich formuliert, kulturelle, der Menschen nichts ändern können. Menschen sind Bestandteil der irdischen Fauna. Mit dem Thema der Studie wende ich mich einem artspezifischen Verhalten des Homo sapiens zu.
Das vermutliche Alter der Art wurde im Laufe von Ausgrabungen und Forschungen umfangreicher. Mit dem derzeit jüngsten Fund in Marokko ist die Zeitspanne auf ca. 300.000 Jahre angewachsen. Das wahrscheinliche Gesicht der vorgefundenen Knochen am Fundort ist von dem zeitgenössischer Menschen nicht zu unterscheiden, doch das Gehirn ist eher länglich ausgerichtet und etwas kleiner (vgl. Hublin, Jean-Jacques; Ben-Ncer, Abdelouahed; Bailey, Shara E.; u.a., 2017, S.289-292).
Bereits 2010 hatten isralische Forscher Zähne entdeckt, die eher Menschen als Neanderthalern gehört haben könnten. Die Erdschicht der ältesten Funde ließ ein Alter von 400.000 Jahren annehmen. Die Beweislage war jedoch zu dünn, um die Fundstücke eindeutig zuordnen zu können (vgl. Smith, Patricia; Sarig, Rachel; Quam, Rolf; u.a., 2011).
Im Vergleich mit dem anthropologisch relevant gewordenen Zeitraum von zumindest 300.000 Jahren ist der von Elias berücksichtigte äußerst gering. Sein Interesse galt den sozialen Entwicklungen seit dem europäischen Mittelalter, also rund der letzten 1.000 Jahre in einem eng begrenzten geographischen Raum. Dies mag von den damals zugänglichen schriftlichen Überlieferungen abgehängig gewesen sein, ist zur Thematisierung der menschlichen Zivilisationen aber eindeutig zu wenig. Verzichtet man auf eine narrative Haltung, auf die eines typischen Geschichtenerzählers, ist im Kontext der Datenlage eine Alternative zu entwickeln.
III
Eines der grundlegenden Probleme ist, ob man im Kontext über Zivilisation eine Teleologie zur Jetzt-Zeit annehmen kann. Sind Menschen und ihre Verhaltungen geschichtlich heute zivilisierter, sieht man von möglichen Dellen im Verlauf einmal ab, die besonders aufgrund von kriegerischen Auseinandersetzungen entstehen könnten, als in früheren Zeiträumen? Die Annahme eines Prozesses der Zivilisation würde eine empirische Entwicklung voraussetzen.
Anders hebt hervor, dass sich Elias Zeit seines Lebens gegen teleologische Interpretationen der von ihm beschriebenen Zivilisationsprozesse gewehrt habe. Er gebe weder Anfang noch Ende an, auch keinerlei Zweck. Lediglich das figurale Geflecht, Elias zitierend, bedinge Veränderungen (vgl. Anders, K., 2000, S.58). Es ginge Elias um die Verdeutlichung eines Funktionszusammenhangs als Bewegungsform, um die Beschreibung der großen Evolution (vgl. ebd., S.59). Diese prosaische Erläuterung hilft aber nicht weiter. Das Wort ‚Evolution‘, übertrüge man es von der Biologie auf das Soziale, wäre nur eine Metapher (vgl. Matern, R., 2014). Übrig bliebe die textliche Arbeit eines europäischen Geschichtenerzählers.
Dieser Erzähler kannte im Rahmen der beschriebenen ‚Bewegungsformen‘ durchaus Tendenzen zu zivilisierterem oder unzivilisierterem Verhalten, doch der gesamte Prozess unterlag seiner Annahme nach keiner eindeutig erkennbaren Richtung (vgl. Anders, K., 2000, S.59). Die Einschätzung, dass lediglich relativ marginale Veränderungen in verschiedene Richtungen festzustellen seien, teil ich, doch mit Zivilisation hatten die geschichtlichen Ereignisse bislang wenig zu tun. Für Elias, so mein Eindruck, geschah Zivilisation einfach aufgrund des Menschseins. Diese Ideologie ist abzulegen, sie hält keiner wissenschaftlichen Prüfung stand, sobald man die menschliche Natur, das tatsächliche Affenmenschen-Dasein einbezieht. Mit zwei Weltkriegen und schier unzähligen Genoziden haben jene Lebewesen im zwanzigsten Jahrhundert auftrumpfen können.
Erforderlich ist ein Kriterium, das erlaubt, geschichtlich soziale Ereignisse und Prozesse als zivilisiert auszugeben. Bislang fehlt der Forschung ein solches Kriterium. Es gibt unzählige schriftlich verfasste Modelle, die von Familien- und Stammesbildungen bis zur „Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften“ reichen (vgl. z.B. Eder, K., 1980), doch diese sozialen Formalisierungen sind im Zusammenhang einer Suche völlig unerheblich, zumal auch in diesen Kontexten immer wieder bildhaft von Evolution die Rede ist. Für ein zivilisiertes Verhalten ist schlicht kein Staat erforderlich, sondern ein spezifisches Verhalten. Bislang ist besonders aus den führenden westlichen Gesellschaften lediglich ein sonderbares Schulterklopfen anlässlich der vollzogenen Entwicklungen zu beobachten.
IV
Man traut sich nicht, soziale Ereignisse und Prozesse zu bewerten, vielleicht aus der Angst, dass bisherige Entwicklungen nicht ausreichen könnten, um guten Gewissens Tage verleben und Nächte durchschlafen zu können. Zivilisierungen der Menschheit haben eventuell noch gar nicht begonnen.
Wenn sich die empirische Forschung gegen Kriterien und Bewertungen sträubt, können vielleicht alte Volksweisheiten helfen, einen geeigneten Maßstab zu finden. Erst überwiegend im zwanzigsten Jahrhundert breitet sich das politische Wahlrecht für Frauen aus (vgl. Weiser, I., o.J.). und erst am 1. Julie 1958 wurde speziell in Deutschland die Gleichberechtigung von Frauen gegenüber Männern politisch verankert, die es Frauen erlaubte, ohne Einwilligungserklärung von männlicher Seite eine Arbeit anzunehmen und ein Konto zu eröffnen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, o.J.). Eine Gleichbehandlung von Frauen und Männern hat sich gesellschaftlich jedoch immer noch nicht durchgesetzt, wie der Führungskräfte-Monitor 2017 im Fall der Wirtschaft vom Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) nachweist (vgl. Holst, E., Friedrich., M., 2017). Weitere konkrete Beispiele gesellschaftlicher Ungleichbehandlung wären anfügbar, ich belasse es jedoch bei dem gegebenen Beispiel. Für eine Frage nach einem möglicherweise geeigneten Kriterium reicht es aus.
Für die Enwicklung eines angemessenen sozialen Kriterums greife ich auf die alten Goldenen Regeln zurück, die weltweit überliefert sind. Konkret sind sie unterschiedlich formuliert (vgl. Philippidis, L.J., 1929), deshalb spreche ich von ihnen im Plural. Gemeinsam ist ihnen eine ethische Befürwortung von Gleichbehandlung, unter ausdrücklicher Einbeziehung der eigenen Person. Bordat sieht in den Regeln die Möglichkeit, sich gegen einen kulturellen Relativismus und für universale Menschenrechte einzusetzen (vgl. Bordat, J., 2004). Rechte wären mir aus zivilisationstheoretischer Sicht jedoch zu wenig, die gibt es u.a. in Deutschland seit einiger Zeit. Zivilisatorisch entscheidend ist das tatsächliche gesellschaftliche Verhalten, um die jeweilige Gesellschaft nicht mit den Bewohnern eines Primatenstalls verwechseln zu können. Eine Zivilisation ist erst zu erringen!
Literatur
Anders, K., 2000, Fortgeschrittener Humanismus oder humanistischer Fortschritt? Norbert Elias und das Teleologieproblem, in: Zivilisationstheorie in der Bilanz. Beiträge zum 100. Geburtstag von Norbert Elias, hrg. v. Treibel, A.; Blomert, R.; Kuzmics, H.; Wiesbaden, S.53-67.
Bordat, J., 2004, Die Goldene Regel und die Universalität der Menschenrechte – Ein Vortrag (online: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1540/1/Die_Goldene_Regel_und_die_Universalit%C3%83%C2%A4t_der_Menschenrechte.pdf).
Bundeszentrale für politische Bildung, o.J., 1. Julie 1958 (online: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschland-chronik/131536/1-juli-1958).
Eder, K., 1980, Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution, Frankfurt a.M.
Elias, N., 1976, Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bde. Frankfurt a.M.
Holst, E., Friedrich, M., 2017, Führungskräfte – Monitor 2017, DIW, Berlin.
Hublin, J.-J.; Ben-Ncer, A.; Bailey, S. E.; u.a., 2017, New fossils from Jebel Irhoud, Morocco and the pan-African origin of Homo sapiens, in: Nature 546, S.289-292.
Matern, R., 2013 (b), Zweifel an der Kultur. Essayistische Notizen, eBook, Duisburg.
Matern, R., 2014, Evolution und Vergeblichkeit, in: Wie wärs mit einer Revolution? Saturnalien aus dem Ruhrgebiet, eBook, Duisburg.
Philippidis, L.J., 1929, Die ‚Goldene Regel‘, religionswissenschaftlich untersucht, Dissertation, Leipzig.
Prüfer, K.; Munch, K.; Hellmann, I.; u.a., The bonobo genome compared with the chimpanzee and human genomes 2012, in: Nature 486, S.527-531.
Smith, P.; Sarig, R.; Quam, R.; u.a., 2011, Middle pleistocene dental remains from Quesem Cave (Israel), in: American Journal of Physical Anthropology, Vol. 144, Issue 4, S.575-592.
Weiser, I., o.J., 12. November 1918 – Geburtsstunde des Frauenwahlrechts, Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg (online: https://www.lpb-bw.de/12_november.html).