Der Schriftsteller Abbas Khider war am Mittwoch Gast der Reihe „textrevolte“ von Literaturbüro Ruhr und Ringlokschuppen Mülheim
Wenn man den heute 38jährigen aus dem Irak stammenden Abbas Khider fragt, wie es ihn nach Deutschland verschlagen habe, erzählt er bereitwillig seine Geschichte, obwohl er sie schon in Dutzenden Interviews erläutern musste. „Aber“, sagt er dazu, „ich bin selbst erstaunt darüber, dass ich sie jedes Mal etwas anders erzähle und sie bei jedem Gespräch auch etwas anders sehe oder etwas anderes daran entdecke.“
Und wenn Abbas Khider erzählt, dann tut er dies mit dem ganzen Körper. Flackert sein Zorn auf Saddam Hussein und dessen Regime auf, dann sieht man diesen Zorn in seinem schönen Gesicht. Spricht er von der Taubenzucht, der er selbst einst für sechs Jahre so verfiel wie Mahdi, der Protagonist seines jüngsten Buches, dann ahmen seine Hände die Bewegungen einer Taube nach, ihres Flugs. Kein asiatischer Taiji-Lehrer könnte sich eleganter bewegen.
Dank an die Polizei
Er sei 2000 in Deutschland nur auf der Durchreise gewesen, als man ihn im bayerischen Ansbach in einem Zug festnahm. Khider hatte keinerlei gültigen Pass vorzuweisen. In Schweden, so hatte er gehört, würden politischen Flüchtlingen Sprachkurse, gar Studium finanziert und in Deutschland gäbe es nichts als Fabriken. Die Beamten hielten ihn für einen Inder oder Pakistaner, als solcher aber hatte er 2000 kein Recht auf Asyl in Deutschland. Im Gewahrsam nahm man seine Fingerabdrücke und erklärte ihm, dass die nun auch an die Grenz-Behörden aller europäischen Staaten geschickt würden, er würde ihn Deutschland bleiben müssen – oder abgeschoben werden. Nur, wohin? Irgendwann sei ein Beamter mit einem arabisch sprechenden Dolmetscher zu ihm gekommen und habe ihn ausgehorcht, um nachzuprüfen, ob er wirklich Iraker sei. Nach den Kinos z.B. in Bagdad, Khiders Geburtsort, habe man sich erkundigt, natürlich konnte er solche Fragen mit Leichtigkeit beantworten. Später wurde ihm erklärt, man schicke ihn nur dann nicht in den Irak zurück, wenn er als politischer Flüchtling Asyl beantrage, was er tat. 2002 bereits wurde er deutscher Staatsbürger. „Eigentlich“, sagt Khider in vielen Interviews so oder ähnlich, „müsste ich mich bei den Polizisten bedanken, die mich damals verhafteten.“
Etwas müde wirkt er nach Lesung und Bühnengespräch im Mülheimer Ringlokschuppen. Es sei schon merkwürdig, wundert sich über sich selbst, die vielen Jahre der Flucht, und nun, seit dem Erfolg seiner Bücher, reise er wieder unentwegt, in manchen Monaten komme er bestenfalls an vier Tagen in seine Wohnung in Berlin-Neukölln. Er habe auf der Flucht immer davon geträumt anzukommen, vielleicht ein Haus zu besitzen, und nun komme er wieder nicht zur Ruhe. Schon im September wird Abbas Khider Stipendiat der Villa Aurora in Pacific Palisades, einem Stadtteil von Los Angeles. Lion Feuchtwanger, der deutsch-jüdische Schriftsteller, und seine Frau Marta hatten dort ihren Wohnsitz im Exil. Von den Bewerbern ums Stipendium wünscht man sich: „Ein aktives Interesse an der Begegnung mit amerikanischer Kunst und Kultur sollte aus Ihrem Arbeitsvorhaben ersichtlich sein.“
„Authentisch, nicht autobiografisch“
In einem K-West-Interview zitierte Khider Nobelpreisträger Claude Simon mit dem Satz „Alles ist autobiografisch, selbst das Erfundene“. In Mülheim aber lässt sich erkennen, dass auch die Umkehrung gilt: Alles ist erfunden, auch das Autobiografische. Jede Erinnerung, jede Erzählung als Bewahrung des Erinnerten ist immer auch eine Re-Konstruktion.
Abbas Khider wurde vor gut drei Jahren mit seinem Roman ‚Der falsche Inder‘ bekannt. Dieser Roman erzählt auch – aber längst nicht nur – vor Khiders autobiografischem Hintergrund die Geschichte eines jungen Irakers, der unter Saddam im Gefängnis saß, die Odyssee seiner Flucht über sieben Länder Afrikas und Europas, die dann im achten Land, im deutschen Exil, vorläufig endet. „Die Orangen des Präsidenten“ liefert im Frühjahr 2011 eine Art Vorgeschichte dazu und erzählt von der Verhaftung eines irakischen Abiturienten, Mahdi, dessen Jugend damit schlagartig endet. Sein Vergehen: Mit Ali, seinem Schulkameraden hat Mahdi seine letzte Abiturprüfung abgelegt. Sie hatten gemeinsam gelernt („Es gab nichts Aufregenderes in unserem Leben als Bücher“), nun soll gefeiert werden. Mahdi lässt sich überreden zu einer Spritztour im Wagen seines Mitschülers, der (wie man später erfährt) Oppositionellen nahezustehen scheint. Am Ende der Fahrt nach Zikkurat Ur wartet die Sicherheitspolizei.
Gestohlene Jugend,
das heißt in diesem Falle: Ein Junge gerät aus der Spätpubertät direkt ins Gefängnisleben und lebt mehr und mehr ohne jede Hoffnung, unter 20 Häftlingen, von denen er der Jüngste ist. Zwei Jahre Untersuchungshaft gilt es, von 1989 bis 1991 zu überstehen, obwohl alle ‚Untersuchungen‘, Verhöre, sogar die Folter ergeben, dass Mahdi sich nichts hat zuschulden kommen lassen.
Ich habe Abbas Khider gefragt, ob er Zahlen kenne, wie viele es wohl gab, deren jugendliches Leben zerstört worden sei, die man zur Lost Generation machte. Das wisse er nicht, aber es werden viele sein, deshalb habe er seine Geschichten erzählen wollen und müssen. Jeder Mensch habe einen Auftrag im Leben und seiner sei, auch von denen zu erzählen, die dies selbst nicht könnten.
„Die Welt war ausgeknipst“
In „Die Orangen des Präsidenten“ zeigt uns Abbas Khider wie in einem zerbrochenem Spiegel ineinander verschränkte Splitter der jüngeren Geschichte des Iraks und Lebenssplitter des Protagonisten Mahdi, die zusammen doch ein Bild ergeben, das Leser gründlich verstören kann. Khider zeigt uns ShortCuts einer Familiengeschichte, ersten sexuellen Begehrens, zeigt Mahdis Freunde und Mithäftlinge, Wärter und Folterer. Der Autor schreibt vom Lebenshunger seines jungen Zufalls-Helden, zeigt uns neben Demütigung und Selbstaufgabe auch persönliches Wachstum und Solidarität. Wir sehen die Abgründe & Risse in den Welten der früh gealterten Häftlinge, aber auch in denen der Aufseher, die sich als Täter, dressierte Äffchen, Überangepasste im Gefängnis auch selbst verstecken, weil ihnen außerhalb der Mauern jeder Mut zu selbstständigem Denken oder couragiertem Leben fehlt.
Der Roman handelt aber auch von der utopischen Möglichkeit der Selbstbehauptung, den Versuchen des Ungehorsams, der Befreiung, des Nachdenkens, dem Geheimnis des Lachens, das Mahdi unter der Folter für sich entdeckt. Ein existenzielles Lachen, ein Lachen über die Tragikomik der Welt, der Menschen in ihr, das den Wärtern verrückt in den Ohren klingt, Mahdi aber hilft, nicht den Verstand zu verlieren, für Momente sogar schmerzunempfindlich zu werden gegen Schläge oder Stromstöße.
Kein ‚Lagerroman‘
Bei Lichte besehen, nehmen die Geschichten aus dem unterirdischen Gefängnis aber nur ein Drittel der Buchseiten ein. Dennoch rechnete Jens Jessen in seiner ZEIT-Kritik Khiders Text gar den ‚Lagerromanen‘ zu. Doch Khiders Erzählung ist anderes als etwa ein komplexer Opferbericht aus einer Fabrik des Todes. Eher noch erinnert sie bei allen Unterschieden vom Plot her an Abenteuerromane, die auch im Gefängnis spielen, wie „Der Graf von Monte Christo“: Polizeiwillkür bringt Unschuldigen in Haft, Elend des Gefängnislebens, Flucht (bei Khider: Befreiung von außen), Versuch des neuen Lebens danach. Khider liefert dazu allerdings illusionslos eine gänzlich entromantisierte moderne Variante. Er lässt seinen jungen Helden weder Rachegelüste ausleben, noch verweigert er ihm die Reife einer Einsicht in die Absurdität von Geschichte und Lebensläufen. Befreit aus der Haft hätte Mahdi die Chance, einem seiner Peiniger nun selbst Gewalt anzutun, und tut es doch nicht. Stattdessen beschwört er sich selbst: „Dieser junge Polizist ist genauso zufällig in seine Position und Situation hineingeraten, wie ich ins Gefängnis geworfen wurde. Es ist nur ein Zufall, wohin wir im Leben geraten. Geh nach Hause!“
Die traurige Pointe – wenn davon überhaupt die Rede sein darf – ist bei Khider aber die, dass Mahdi nie wirklich mehr dauerhaft zu Hause und bei sich selbst ankommt. Mahdi muss schließlich den Irak verlassen, weil die Amerikaner den Sturz Saddams zum Ende des im Westen so genannten 1. Golfkriegs um Kuwait nicht mehr weiter verfolgen, sondern sich zurückziehen. Die Truppen Saddams rücken wieder vor und bombardieren Mahdis Heimatstadt, das Haus seines Onkels. Mahdi setzt sich ab, schlägt sich durch zu einem Flüchtlingslager an der irakisch-kuwaitischen Grenze, ohne wirklich gerettet zu sein. „Flüchtlingslager sind der langweiligste Ort der Welt“, auch von dort wird Mahdi bald fliehen.
Vielleicht sind es diese bitteren Erfahrungen Mahdis, die eben zum guten Teil auch die Khiders sind, die es möglich machen, seinen Roman auch als literarisches Plädoyer für Weltoffenheit und kulturellen Austausch zu lesen, als eine Absage an den Kampf der Kulturen oder Religionen. In die „Orangen des Präsidenten“ wird Sami, Mahdis väterlicher Mentor, von der Figur Razaq so beschrieben: „Er ist ein Iraker sumerischer Abstammung, der von einem assyrischen Pferd auf einen babylonischen Stein fiel und daraufhin einen mesopotamischen Vogel bekam. (…) Sami war ein einzigartiger Mensch.“ Und von Mahdi selbst, aufgewachsen in einer schiitischen Familie im Kurdenviertel Babylons, heißt es: „Ich bin also ein sumerisch-babylonisches Kind. Ich lebte in den heiligen Stätten der Menschheitsgeschichte.“ Und über die Figur Razaq wird gesagt: „Razaq war ursprünglich Inder, lebte aber im Irak wie ein Iraker.“ „Sami sagte oft: ‚Wenn alle Inder wie Razaq wären, dann würde ich mir wünschen, Inder zu sein. Und wenn alle Iraker wie Razaq wären, dann würde dieses Land eine neue mesopotamische Legende erleben.‘“
Glückstränen, Trauerlachen
Menschen wie Sami, Razaq, einige Mithäftlinge als Mentoren sind es, die eine Grunderfahrung Mahdis möglich machen: Dass es immer wieder Menschen gibt, die bereit sind zu helfen, durch die und mit denen man überleben kann. All das Grausame, das Mahdi und damit seinen Lesern widerfährt, wird gebrochen durch Khiders Gespür für das Wunderbare, fürs Außergewöhnliche, Schöne, für Momente der Güte und der Liebe.
Wird aber auch gebrochen durch Khiders Sinn fürs Komische des Tragischen, für Humor in allen Facetten. In einer grotesken Geschichte erzählt Khider z.B., wie sein Vater als Held des Iran-Irak-Krieges ums Leben kam, weil er nachts an der Front auf einem Hügel raucht und die Zigarrenglut ein gutes Ziel abgibt für die Scharfschützen der Iraner, die den Vater direkt ins linke Auge treffen. Die Mutter bekommt daraufhin (auch von den Amerikanern subventioniert) 2.000 Dollar, ein Grundstück und einen Renault. Sie verkauft Grundstück und Auto, kauft eine kleine Wohnung und macht in einem Teil davon einen Laden auf: ihr „Martyrergemüsegeschäft“.
Solche Drastik, solch derber Spott, solch kleine trotzige Blasphemien durchziehen den ganzen Text. „Glückstränen“ und „Trauerlachen“ sind es im Roman, die sowohl die Mutter als auch Mahdi Schicksalsschläge, den Alltag unter der Diktatur, aber auch Krieg und Folter aushalten lassen.
Über das Lesen die Religion vergessen
Für Khider selbst war es auch das Lesen und Schreiben, das ihn immunisiert hat gegen Ideologien und Glaubenssysteme. Als Aushilfe in einem Bücherbasar ist er selbst in Kontakt mit Oppositionellen aller Couleur gekommen, die manchmal seine Lehrer wurden. Einer von ihnen hat ihn, der als gut-gläubiger Junge mit dem Koran unterm Arm herumlief und jeden bekehren wollte, auf Khalil Gibrans „Der Prophet“ aufmerksam gemacht. Darin heißt es auch: „Ich kam in die Welt, um zu leben und um ein Buch zu schreiben – ein einziges schmales Buch, ich wurde geboren, um zu leben und zu leiden und um das Wort lebendig werden zu lassen und ihm Flügel zu verleihen.“ Von da an hat die Literatur Khider nicht mehr losgelassen, über das Lesen, so sagt er, habe er die Religion vergessen.
Im Irak ist Khider auch als Lyriker bekannt. Das merkt man auch seinen prosaischen Texten an. In „Die Orangen des Präsidenten“ schließt sich der junge Mahdi auf der Flucht Richtung Kuwait einem alten Mann an, Abu-Hady, und übernachtet mit ihm und seiner Familie in der Wüste, in einer Hausruine mit Leichenteilen darin. Während des nächtlichen Gesprächs sagt der Alte die poetischen Sätze: „Und immer wieder treten Ereignisse ein, die mich fast davon überzeugen, dass wir gar keine Menschen sind. Höchstens Gäste. Einzigartige Gäste aus dem Nichts.“
Und dann wagen es beide, sich einzugestehen, dass sie als Überlebende des Systems Saddam dennoch ihre Hoffnungen verloren haben. Mahdi berichtet in den Schlusssätzen des Romans:
„Er legte seine Hand auf meine Schulter. ‘Weißt du was?‘
‚Was?‘
‚Obwohl ich eigentlich sehr glücklich bin, meine Familie in Sicherheit gebracht zu haben, will ich eigentlich nur noch auf alles spucken. Auf die Heimat. Auf die Baathisten. Auf Amerika. Auf die Araber. Auf die Alliierten. Auf die ganze Menschheit. Und auf Gott, den Faulen, der seinen Hintern nicht hochkriegt.‘‘
‚Lass uns das am besten gemeinsam tun.‘
Wir spuckten auf den Boden und setzten unseren Weg fort.“
Ein schräger integrer Vogel
Was aus Mahdi geworden ist – als eine ganz andere Figur – kann man im Debütroman Khiders „Der falsche Inder“ nachlesen. Und was aus Khider – auch angesichts der arabischen Revolutionen – geworden ist, beschreibt er im FAZ-Interview selbst so:
„Ich bin inzwischen ein arabischer Mutant (…). Ein komischer Vogel zwischen den Kulturen. Die jüngsten Nachrichten waren so etwas wie eine zweite Geburt für mich.“ Khider ist deshalb im Frühjahr auch nach Kairo gereist, war bei den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz. Überall der gleiche Grundton der Hoffnung darauf, dass die Araber endlich wieder beginnen, ihre Geschichte selbst zu schreiben. Intellektuelle haben das Thema ‚Arabische Identität‘ entdeckt, genau so, wie in den 90er-Jahren auf der anderen Seite des Mittelmeers unentwegt über die europäische Identität diskutiert wurde. Ihm persönlich sei es nicht wirklich wichtig, was arabische Identität sei. Und schon erzählt Khider eine neue Anekdote. In manchen arabischen Ländern hießen Telefonzellen ‚Ägypter‘. Warum? Weil ein Ägypter auch nur arbeite, wenn man Geld einwerfe. Und dann lacht Khider sein umwerfendes Lachen. Unwillkürlich kommt einem der Gedanke: Wenn das nicht schon wieder zu eurozentrisch, zu überheblich wäre, könnte man hierzulande auch gerne einmal spucken auf diese immer neuen Moden von Identitäts-Suche. Ein bisschen Integrität eines jeden Menschen würde es doch auch tun.
Abbas Khider: Der falsche Inder. Edition Nautilus, Hamburg 2008
Abbas Khider: Die Orangen des Präsidenten. Edition Nautilus, Hamburg 2011
Mehr Infos unter: www.abbaskhider.com
Disclaimer: Der Autor dieses Beitrags war Mitveranstalter der Lesung mit Abbas Khider.
Wegen diesem Phänomen ist die Oral History ja auch umstritten. Diese Erfahrung habe ich selbst schon oft gemacht, dass bei einer wiederholten Frage der Interviewte eine andere, neue Wahrheit zu Tage brachte. Es scheint als hätte es was mit der Tagesstimmung, den Anwesenden, dem Wetter zu tun, welche Antwort gerade in dem Augenblick gegeben wird. Es gibt scheinbar nicht nur die eine einzige Motivation, Grund um beispielsweise eine Reise zu machen. Es gibt da mehrere Wahrheiten, die an einem ‚Tag genannt werden aber an einem anderen Tag gar nicht mehr so elementar sind, stattdessen eine andere Wahrheit genauso oder viel mehr wichtig ist.