Heute morgen starb der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl im Alter von 87 Jahren. Für viele unserer Autoren und Autorinnen war der letzte Kanzler der alten Bundesregierung eine Jugend- und Kindheitserinnerung.
Maxine Bacanji: Über Helmut Kohl habe ich meine erste politische Diskussion geführt. Es war auf dem Pausenhof meiner Grundschule. Wir sprachen darüber, ob unsere Eltern bei der anstehenden Wahl Kohl oder Schröder wählen würden. Die meisten waren für Schröder. Wir fanden, dass Helmut Kohl gruselig aussieht.
Sebastian Bartoschek: Meine erste Erinnerung an Helmut Kohl ist tatsächlich das Ärzte- Lied über Hannelore. Später war er dann der erste Politiker, gegen den ich lauthals demonstriert habe, und das obwohl ich damals in der FDP war. Das fanden die anderen nicht so schick. Die Wiedervereinigung geht in meiner Welt vor allem auf das Konto von Hans Dietrich Genscher. Letztlich war ich tatsächlich froh, als Helmut Kohl von Gerhard Schröder abgelöst wurde. Danach erschien Helmut Kohl mir als Krimineller, der gerne Ehrenmann gewesen wäre. Aus heutiger Sicht muss ich anerkennen, welche positive Gestaltungsrolle Helmut Kohl auch übernommen hat. Die Geschichtsbücher werden ihn verklären. Deswegen brauche ich das nicht tun.
Robert Friedrich von Cube: Meine erste politische Erinnerung überhaupt: Wahl zwischen Schmidt und Kohl und ich fand es sehr seltsam, dass offenbar Kanzlerkandidaten zwangsläufig Helmut heißen müssen.
Simon Ilger: Als ich zur Welt kam war Kohl Kanzler und er blieb es die ganze Kindheit und Teile meiner Jugend. Die einzigen erwähnenswerten Erinnerungen an Kohl waren zum einen das Birne-Titelbild der titanic, welches mein Patenonkel in seiner Wohnung (die mit dem coolen Hochbett!) an der Wand hängen hatte und zum anderen der entsetzte Ausruf meines Bruders Ende September des Jahres 1998, kurz nach 18Uhr, als er nach den ersten Hochrechnungen den jubelnden Schröder im Fernseher sah und meinte: „Was? Jetzt ist der Bundeskanzer Kohl!?“
Stefan Laurin: Unter Helmut Kohl wurde ich erwachsen. In meiner Erinnerung steht er weniger für die Einheit, sondern mehr für die Bundesrepublik, die eben noch nicht Deutschland war, sondern ein kleines, etwas behäbiges und sehr reiches Land. Also nicht der übelste Ort, um aufzuwachsen. Was ich an Kohl schätzte, war, dass er ein wirklich überzeugter Europäer und kein Nationalist war und zur Westbindung stand wie kaum ein zweiter Politiker in den 80er Jahren. Sein Auftreten habe ich als eine Mischung aus Unsicherheit und Arroganz in Erinnerung, die Spendenaffäre ruinierte sein Ansehen nach der Kanzlerschaft, der gemeinsame Besuch von SS-Gräbern in Bitburg mit Reagan war eine Grenzverschiebung, die nie hätte geschehen dürfen. Wahrscheinlich ist Kohl der unter den großen Kanzlern, der aber nicht als großer Kanzler in Erinnerung bleiben wird – und somit eine tragische und ambivalente Person der Zeitgeschichte.
Thomas McNeal: An den 1. Oktober 1982 habe ich lebhafte Erinnerungen. Schmidt wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt und Kohl gewählt. Den ganzen Tag haben wir in der Schule zusammen vor dem Fernseher die Debatte verfolgt. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Jeder spürte: Heute vollzieht sich Geschichte. Schmidts bissige Rede, Hildegard Hamm-Brücher, die sich im Bundestag gegen ihre Fraktion stellt und erklärt, warum sie Kohl nicht wählen kann. Eine Sternstunde des Parlamentes. Die Jahre danach gerinnen in meiner Erinnerung zu wenigen Höhepunkten, NATO Doppelbeschluss, irgendwie bleierne Jahre. Dann erst wieder der 09. November 1989, die Mauer fällt und nur Willy Brandt findet die richtigen Worte. Nach den blühenden Landschaften erneut eine irgendwie graue Zeit. Seine seltsame Art, wie er die Worte „Geschichte“und Familie“ aussprach. Gewählt habe ich ihn nie. Aber er bleibt ein großer Deutscher….was wohl mehr über dieses Deutschland aussagt als über ihn.
Robin Patzwaldt: Nicht so einfach, das alles hier in ein paar Worte zu fassen, was ich mit ihm verbinde. Kohl war in meiner Jugend der gefühlte ewige Kanzler. Ich habe deshalb tatsächlich gefeiert, als er dann endlich Schröder weichen musste. Damals wollte ich einfach eine Veränderung im Kanzleramt, so wie offenkundig viele andere auch. Dass dann auch das mit Schröder am Ende eher ein Fiasko als eine Freude war, steht dann auf einem ganz anderen Blatt.
Bei Kohl erinnere ich mich im Rückblick noch an die vielen geringschätzigen ‚Birne‘-Sprüche und Aufkleber seiner frühen Jahre. Dann kam die Deutsche Einheit und Kohl, den zuvor schon viele Leute wohl hätten loswerden wollen, rettete sich noch einmal eindrucksvoll über weitere Jahre. Aus denen ist mir dann in erster Linie das Gerede von den ‚blühenden Landschaften‘ und ‚das zahlen wir doch aus der Portokasse‘ in Erinnerung.
Am Ende blieb dann ein verbitterter Altkanzler, der gerne und heftig Journalisten beschimpfte und in den CDU-Parteispendenskandal verwickelt war, wo er durch seinen ‚Gedächtnisschwund‘ beim Benennen der Geldquellen unrühmlich auffiel. Damit hat er sich seinen Ruf wohl dauerhaft bei vielen Zeitgenossen endgültig ruiniert.
Trotzdem wird natürlich auch und gerade eben die Wiedervereinigung auf ewig mit ihm verbunden bleiben. Aufstieg und Fall eines Politikers waren hierzulande jedoch wohl selten so gut und langanhaltend zu beobachten wie in seinem konkreten Falle.
Vanessa Stracke: Als ich Helmut Kohl zum ersten Mal live gesehen habe (muss ca. ’95 gewesen sein), habe ich Angst gekriegt, weil ich bis dahin nicht wusste, dass Menschen so groß werden können.
Sebastian Weiermann: Ich habe eine sehr indifferente Sicht auf Helmut Kohl. Der Name klingt für mich nach Kindergarten, Grundschule, Wald und Super Nintendo. Also nach einer ziemlich guten Zeit. Unter Kohl war für mich alles super, denn ich war ein Kind. Helmut Kohl, das klingt aber irgendwie auch nach dem deutschen Anspruch eine Weltmacht zu sein, nach der Asylrechtsverschärfung, nach Nazi-Banden von Hoyerswerda bis Solingen und nicht zuletzt nach einer filzigen, konservativen CDU, der man keine Träne nachweinen muss.
Michael Kolb: In einer Zeit, in der alle Brillen noch wie Kassenbrillen ausgesehen haben, war Helmut Kohl der unsympathische Mann der feist grinste, als Helmut Schmidt ihm zum Gewinn des Misstrauensvotums gratulierte… oder gratulieren musste und ich war sauer, schließlich war Helmut Schmidt der Mann, dem ich meinen ersten erlaubten „Wenig Sekt mit viel Orangensaft“ zu verdanken hatte, als er die Wahl im Oktober 1980 gewonnen hatte. Die nächsten neun Jahre hat mich Kohl eher weniger interessiert, schlimme Klamotten, gute Musik und die Pubertät hatten mich abgelenkt. Dann kam der 9. November 1989, die Mauer fiel und Kohl war, auch wenn andere, Genscher z.B., die Kärrnerarbeit leisteten, der Kanzler der Einheit, mittags war er innenpolitisch noch so gut wie tot und am Abend war ihm der Eintrag in die Geschichtsbücher sicher. Mir hätte diese Tatsache beinahe einen Eintrag im Strafregister beschert. Als mich der UvD am nächsten Morgen weckte und ich ihn darauf hinwies, dass er sich das ja nun getrost sparen könnte, weil die Sache mit Blau- und Orangeland ja nun wohl vorbei sei und er mich gottverdammt ausschlafen lassen solle, nun, der fand das nicht so lustig… Auch nicht lustig waren die noch folgenden Jahre bis 1998, aber ich will mich nicht in Erinnerungen verlieren, alles was damals geschah und alles was seitdem passiert ist, ist, wie meine Mutter zu sagen pflegt, „verschüttete Milch“. Kohl war/ist der Kanzler der Einheit. Kohl war/ist der Kanzler, in dessen Regierungszeit, der Traum, das Versprechen, von Europa ein Bild bekommen hat, als er, Hand in Hand, mit Mitterand in Verdun gestanden hat. Ich habe Kohl nie gemocht, aber er ist, auch wenn ihm das gerade viel absprechen wollen, ein „großer Europäer“. Wenn jemand es schafft, gemeinsam mit ehemals verfeindeten Nachbarn, ein Haus zu bauen, dann ist er ein guter Architekt, Bauingenieur, Fliesenleger, Projektplaner oder was auch immer. Wenn er anschließend sagt, dass dieser oder jener das Haus nicht betreten darf… nun ja, dann ist er zwar ein Arsch mit Kassenbrille, aber er ist immer noch ein guter Architekt, Bauingenieur, Fliesenleger oder Projektplaner…
Eine meine ersten politischen Erinnerungen war die Vereidigung Kohls zum Kanzler. Und dann blieb er.. Als Teenager führten wir Diskussionen mit den Lehrern, ob eine solch lange Kanzlerschaft , wenn auch demokratischngewählt, nicht auch eine Form von Diktatur sei. Ich war Mitte 20 als Schröder Kanzler wurde. Es fühlte sich ein wenig an wie eine Befreiung von dem ewigen Kanzler. Seit dieser Zeit bin ich ein Verfechter der begrenzten Amtszeit für Kanzler … Ich hoffe es werden, wenn die ganzen Lobeshymnen verklungen sind, auch die dunklen Seiten seiner Amtszeit aufgearbeitet.
Für mich ist er der Kanzler der großen Fehler gewesen, ein paar Beispiele:
– geistig-moralische Wende
– besonders spannend als Hintergrund, wenn sein Ehrenwort über dem Gesetz stand im
– Parteispendenskandal
– komplett planlose Wiedervereinigung mit diversen Fehlern aus wahltaktischen Gründe wie
– "blühende Landschaften"
– Treuhandirrsinn
– Verteufelung der SED/PDS/Linken, wobei er die Ost-CDU ohne viel Trara gerne genommen hat
usw. usw.
Was heute gerne vergessen wird, wäre nicht die Wiedervereinigung nicht gewesen, so wäre er hoher Sicherheit bei der nächsten Bundestagswahl abgewählt worden.
Möge er in Frieden ruhen.
Er steht für mich vor allem für die systematische Verdrängung der Einwanderung und die konsequente Verhinderung eines entsprechenden Gesetzes, die seine Ziehtochter Angie genauso weiter geführt hat. Die Folgen dieser konservativen Realitätsferne werden wir noch lange zu spüren haben. Der Mann wirkt also auch im Negativen über seinen Tod hinaus. Er möge trotzdem in Frieden ruhen.
Die Leugnung , dass Deutschland llängst ein Einwanderungsland geworden ist und Zuwanderer als "Gastarbeiter" bezeichnet wurden und diese durch Debatten um Rückkehrprämien – ein Euphemismus für "Ausländer raus" – aus der Gesellschaft fortgesetzt ausgegrenzt wurden, war ein schwerer Fehler der Kohl-Ära.
.Auch ansonsten kann ich der Kohl-Zeit, zu der auch lange "Richter" Filbinger zu zählen ist, wenig abgewinnen.
R.i.p., da schließe ich mich Arnold Voss an. Aber da ich ihn auch über seine gesamte Kanzler-Amtszeit ertragen musste und bei jeder Wiederwahl wütender wurde, beschleicht mich irgendwie das irrational-gespenstige Gefühl, dass das noch nicht alles von ihm war…(schauder)
Keine Angst Klaus Lohmann. Der Mann war zwar ein politischer Gigant, der von Außen nicht gestürzt werden konnte, aber wenn das so ist, werden diese Leute von Innen erledigt. Und das ist dann wirklich endgültig. Wer von jemanden aus den eigenen Reihen kaltgestellt werden kann, der wird mißtrauisch, weiß nie, ob die Stunde günstig ist, überlegt sich jeden Comebackversuch zweimal, und vergrämt irgendwann, bis ihn tatsächlich niemand mehr haben will.
The will never come back. Wie bei den Boxern.