Zweierlei Maß: Sudan und Gaza

Flüchtlinge in dafur Foto: USAID Lizenz: Gemeinfrei


Die verhaltene Resonanz der westlichen Intellektuellen gegenüber Ländern wie Afghanistan oder dem Sudan wirft die Frage auf, ob sie sich wirklich für die Menschlichkeit einsetzen oder eher von politischen Motiven geleitet werden. Von unserem Gastautor Thomas von der Osten-Sacken.

Santishree Dhulipudi Pandit ist Vizekanzlerin der angesehenen indischen Jawaharlal Nehru Universität, also über den Verdacht erhaben, nicht aus der Region zu stammen, die neuerdings als »Globaler Süden« tituliert wird. Sie ist auch die erste Frau überhaupt, die dieses Amt innehat. Das allein macht sie sicherlich nicht zu einer Sympathieträgerin – ganz besonders, weil sie es mit dem Hindu-Nationalismus der Regierung von Narendra Modi hält.

Und doch verfasste sie kürzlich für den Sunday Guardian, eine indische Wochenzeitung, die nicht mit dem britischen Guardian verwechselt werden sollte, einen Beitrag über die Doppelmoral Intellektueller, der äußerst lesenswert ist; insbesondere, weil die Verfasserin aus Indien stammt und sich ebenso gegen die dortigen linken Eliten richtet, wie er Kritik an jenen in Europa übt. Pandit schreibt:

»Die intellektuelle Klasse ist oft stolz auf ihr Engagement für die Menschheit und betont gerne, dass sie für die Menschenrechte eintritt. Dieses Engagement bleibt jedoch selektiv, kurzsichtig und politisch bestimmt. Die brutalen Angriffe der Hamas auf Zivilisten, darunter Kinder, Frauen und ältere Menschen, haben sie beispielsweise nicht beunruhigt. Erst, als Israel auf den wohl schwersten Angriff gegen die jüdische Bevölkerung seit dem Holocaust reagierte, rückten die Menschenrechte in den Mittelpunkt.

Das Gleiche geschah bei der humanitären Krise der Afghanen in Pakistan, die mit einer grausamen und unmenschlichen Ausweisung aus dem Land konfrontiert waren. Doch auch die Reaktion der intellektuellen Klasse auf diese Krise war auffallend verhalten. Dies wirft die Frage auf, ob man sich wirklich für die Menschlichkeit einsetzt, oder ob derartige Sorgen eher von politischen Motiven als von einem unerschütterlichen Einsatz für die Menschenrechte geleitet werden.

Wenn der Diskurs über die Menschenrechte eher von politischer Zweckmäßigkeit als von einem unerschütterlichen Engagement für Gerechtigkeit geprägt ist, wird das eigentliche Wesen des Begriffs infrage gestellt.

Können diese beiden Beispiele isoliert betrachtet werden? Nehmen wir einen anderen Fall, den Sudan. Afrika ist trotz seines reichen Erbes und seiner natürlichen Ressourcen ein vernachlässigter Kontinent. Er hat die schlimmsten Auswirkungen von Kolonialismus und Völkermord erlebt, und jetzt sehen wir wie stumme Zuschauer der Wiederholung eines weiteren Völkermords zu. (…) Der Sudan kämpft mit einer schweren humanitären Krise und einer der schlimmsten Menschenrechtssituationen in seiner Geschichte. Der Weltbericht 2023 der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zeichnet ein düsteres Bild von den weit verbreiteten Übergriffen und Angriffen auf die Zivilbevölkerung in Darfur, die durch die anhaltenden Nachwirkungen des Staatsstreichs vom Oktober 2021 noch verstärkt werden.

Um den Ernst der Lage zu begreifen, muss man sich die humanitäre Krise vor Augen führen, die vom UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) beschrieben wird. Ende des heurigen Jahres werden acht Millionen Menschen im Sudan Hilfe benötigen, darunter sieben Millionen Binnenvertriebene, von denen über 350.000 schon im Jahr 2022 vertrieben wurden. Die Finanzierungslücke, die sich derzeit auf 862 Mio. Dollar von den benötigten 1,9 Mrd. Dollar beläuft, unterstreicht deutlich, dass die internationale Hilfe nicht ausreicht, um die dringenden Bedürfnisse der sudanesischen Bevölkerung zu decken.

Letztendlich wirft die eklatante Heuchelei im Zusammenhang mit den Menschenrechtsverletzungen im Sudan ein Schlaglicht auf die selektive Aufmerksamkeit und die verhaltenen Reaktionen der Intellektuellen. Wenn der Diskurs über die Menschenrechte eher von politischer Zweckmäßigkeit als von einem unerschütterlichen Engagement für Gerechtigkeit geprägt ist, wird das eigentliche Wesen des Begriffs infrage gestellt.«

Größtmögliches Desinteresse

Man möchte jeden dieser Sätze unterschreiben und hinzufügen, dass inzwischen der Sudan mit Abermillionen Binnenvertriebenen als größte Flüchtlingskrise überhaupt gilt. UNO-Agenturen und andere humanitäre Organisationen senden einen Hilferuf nach dem anderen, weil sich die Lage fast täglich verschlimmert und inzwischen, so ein Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR, sich zu einer »humanitären Krise unvorstellbaren Ausmaßes« entwickelt habe.

Wer allerdings in deutschsprachigen Medien nach Berichten über die Lage sucht, tut dies in der Regel vergeblich, denn es wird schlicht und ergreifend darüber nicht berichtet. Auch fehlen die entsprechenden offenen Briefe, Petitionen und Mahnwachen. Das Desinteresse scheint noch größer, als es schon angesichts der Katastrophen im Jemen oder in Äthiopien war.

Derweil warnen inzwischen nicht nur Betroffene in der Region Darfur, sondern eben auch Menschenrechtsorganisationen, dass – nach den Verbrechen der Dschandschawid-Milizen Anfang der 2000er Jahre – ein zweiter Genozid drohe. Auch der Economist ist entsetzt, wie wenig in den Medien über diesen Konflikt berichtet wird und veröffentlichte im November einen längeren Beitrag unter dem Titel »Die Welt ignoriert Krieg, Völkermord und Hungersnot im Sudan«. Darin heißt es unter anderem:

»Anfang dieses Monats zogen völkermordende Bewaffnete in einem Flüchtlingslager im sudanischen Darfur drei Tage lang von Haus zu Haus, suchten nach Männern masalitischer Abstammung und töteten sie. Es war nicht der erste Angriff dieser Art, aber als sie fertig waren, sagten Einheimische, dass zwischen 800 und 1.300 Mitglieder der schwarzafrikanischen ethnischen Gruppe getötet worden waren.

Eigentlich wäre es angesichts der 1947 von der UN verabschiedeten Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ganz einfach: Im Zentrum steht, der Name sagt es schon, die Verhinderung von Völkermorden.

Unbestätigte Videos zeigen Straßen voller Leichen und verängstigter Menschen, die vor einem offensichtlichen Massengrab zusammengedrängt oder von Kämpfern der hauptsächlich arabischen Schnellen Eingreiftruppen (RSF) geschlagen werden, einer paramilitärischen Gruppe, die alle Vorwürfe bestreitet. Um uns herum findet ein Völkermord statt‹, sagt ein ermatteter Entwicklungshelfer. ›Es fühlt sich ziemlich hoffnungslos an.‹ Diese ethnische Säuberung ist nur einer der vielen Schrecken, die den Sudan heimsuchen.«

Die EU mahnt … und tut nichts

Inzwischen hat sich auch die Europäische Union zu einem Statement durchgerungen – man sollte nie vergessen, dass erst der Diktator Omar al Bashir, auf den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen der Dschandschawid-Verbrechen ausgeschrieben war, dann das Militär und genau jene RSF-Milizen, die nun im Verdacht stehen, einen neuen Völkermord zu verüben, allesamt Partner der EU im Kampf gegen Flüchtlinge waren – und ebenfalls vor einem neuen Genozid gewarnt:

»Der EU-Spitzendiplomat Josep Borrell verurteilte die Gräueltaten gegen die Masaliten in Darfur und sprach von ethnischen Säuberungen, die zu der ersten großen Welle von Gewalt im Juni hinzukommen. ›Diese jüngsten Gräueltaten sind offenbar Teil einer umfassenderen ethnischen Säuberungskampagne, die von der RSF mit dem Ziel durchgeführt wird, die nicht-arabische Masalit-Gemeinschaft in West-Darfur auszurotten‹, sagte Borrell. ›Die internationale Gemeinschaft kann nicht die Augen davor verschließen, was in Darfur geschieht und einen weiteren Völkermord in dieser Region zulassen.‹«

Genau dies aber tut jene ominöse internationale Gemeinschaft, von der niemand so richtig zu sagen weiß, worum es sich dabei eigentlich handelt, aber gerade einmal wieder. Es ist nicht das erste Mal, man denke nur an Kambodscha, Ruanda, den Sudan 2004, die Jesiden im Irak und viele andere.

So zynisch es angesichts der Katastrophe klingt, vermutlich wünschten sich Menschen in Darfur und anderswo im Sudan fünf Prozent jener Aufmerksamkeit, die den Menschen in Gaza zuteil wird.

Eigentlich wäre es angesichts der 1947 von der UN verabschiedeten Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes ganz einfach: Im Zentrum steht, der Name sagt es schon, die Verhinderung von Völkermorden; das heißt, die Pflicht, sobald ein staatlicher oder nichtstaatlicher Akteur im Verdacht steht, einen Völkermord zu planen oder gar zu beginnen, ihm mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in den Arm zu fallen.

Schon jetzt allerdings gibt die EU bekannt, dass sie sich nicht etwa zuständig fühlt, sondern ihr außenpolitischer Sprecher appelliert seit Monaten, nachdem klar geworden ist, was die RSF-Milizen in Darfur anrichten, an eine internationale Gemeinschaft, die, da sie nicht existiert, auch keine Mittel zur Verfügung hat, aktiv zu werden.

So zynisch es angesichts der Katastrophe klingt, vermutlich wünschten sich Menschen in Darfur und anderswo im Sudan fünf Prozent jener Aufmerksamkeit, die den Menschen in Gaza zuteil wird. Vielleicht würde dann irgendjemand aktiv werden, um den zweiten Genozid in Darfur zu verhindern, wo schon der erste weitgehend ungestört vor aller Augen stattfinden konnte.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch

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Wolfram Obermanns
Wolfram Obermanns
11 Monate zuvor

„Zweierlei Maß“ ist nur im Sinne eines Universalismus ein Problem. Vielerlei Maß ist hingegen bei identitären Konzepten inhärent gegeben.
Für neubraune Identitärsozialisten bleiben die Massaker in Pakistan, Afghanistan, Sudan etc. pp. quasi als eine Art Folklore im grünen Bereich.

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