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Unter Stalin verhungert, von den Russen erschossen. Vor den Deutschen geflohen, von den Russen gerettet. Vor den Russen geflohen, von den Deutschen gerettet. Was Vasyl Kulynych von seiner Familie erzählt, ist unfassbar wie das Jahrhundert, die Geschichte einer ukrainischen Familie.
Allein der Ort seiner Geburt, Magnitogorsk im Ural, mehr als 2 ½ Tausend Kilometer von Kiew entfernt, es war im ersten Jahr nach Stalins Tod. Heute lebt Vasyl, 70 Jahre alt, mit Kindern und Enkelkindern in Bochum, sein Weg an die Ruhr ist einer durch ein Jahrhundert der Gewalt:
„Meine Großeltern habe ich nie kennen gelernt, sie starben vor dem Zweiten Weltkrieg – die einen in der großen Hungersnot in der Ukraine, die 1932/33 von der kommunistischen Regierung künstlich erzeugt worden war …“ –
dem geplanten Verhungern fielen mindestens drei und bis zu sieben Millionen Ukrainer zum Opfer, Ende November 2022 hat der Deutsche Bundestag den Holodomor (holod = Hunger, moryty = morden) ein Menschheitsverbrechen genannt –
„… die anderen durch Armut oder kommunistische Kugeln. Der Vater meines Vaters wurde im Alter von 40 Jahren von den Kommunisten mithilfe eines konstruierten Vorwurfs am 5. Mai 1938 im örtlichen Gefängnis erschossen. In der außergerichtlichen Urteilsbegründung hieß es: ‚Zur Feier des 120. Geburtstags von Karl Marx – erschießen.‘ 1956 wurde mein Großvater posthum rehabilitiert.“
Da war Vasyls Vater 13 Jahre alt, drei Jahre später, im Juni 1941, fiel die deutsche Wehrmacht in Russland ein:
„Als die Frontlinie heranrückte an die Ukraine, wurden alle Jugendlichen ab 14 Jahren, weil sie noch nicht mobilisiert werden konnten, zwangsweise ins Landesinnere der Sowjetunion evakuiert. Wenn sie Glück hatten in Güterwaggons, die meisten mussten zu Fuß gehen. So gelangte mein Vater 1942 in den Ural.“
Dort, in Magnitogorsk, wird er zum Tischler ausgebildet, er arbeitet in der Metallurgie. Der industrielle Aufbau und damit indirekt auch seine Ausbildung werden von den USA gefördert.
„Nach dem Krieg, 1947, heirateten meine Eltern. Meine Mutter war Russin, sie war während des Krieges aus der Region Woronesch evakuiert worden. Als sie heiratete, war sie 17 Jahre alt, sie arbeitete als Verputzerin auf dem Bau. In Magnitogorsk bekamen sie vier Kinder, aber zwei meiner Geschwister starben wegen der furchtbaren Umweltbedingungen in den metallurgischen Werken. Daher zog die Familie Ende 1958 in die Ukraine – zurück in die Heimat meines Vaters.“
Bis heute zählt Magnitogorsk zu den von giftigen Schwermetallen am meisten belasteten Orten weltweit, 2007 wird die Stadt, kaum größer als Bochum, vom Blacksmith Institute zu den „Top Ten of The Dirty Thirty“ gerechnet, den meist verschmutzen Städte der Welt.
„Wegen gesundheitlicher Probleme konnte meine Mutter nicht mehr arbeiten, in der Ukraine hatte sie ein weiteres Kind zur Welt gebracht und widmete sich unserer Erziehung. Mein Vater arbeitete zunächst als Bauleiter in einer Kolchose, später als Wirtschaftsverwalter an einer Schule. Dann absolvierte er ein pädagogisches Studium und wurde Geschichtslehrer. Schließlich war er stellvertretender Schuldirektor. Meine Mutter wurde 86 Jahre alt, mein Vater 98. Als er 2023 verstarb, konnte ich mich – es ist Krieg – nicht einmal von ihm verabschieden.“
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Vasyl selber – „schon als Kind träumte ich davon, die Natur zu erforschen“ – lässt sich in Ichthyologie und Fischzucht ausbilden, arbeitet sich ins ukrainische Landwirtschaftsministerium hinauf, leitet Fischzuchtbetriebe, studiert an zwei weiteren Universitäten, heiratet:
„Zusammen zogen wir näher zu meinen Eltern in die Stadt Uman, sie liegt im Zentrum der Ukraine. Meine Frau und ich bekamen fünf Kinder, und als sie erwachsen waren und zum Studium nach Kiew gingen – alle unsere Kinder haben eine akademische Ausbildung erhalten – zogen wir in das Heimatdorf meines Vaters. Heute haben wir sechs Enkelkinder. 2021 entschieden meine Frau und ich, in die Nähe unserer jüngsten Tochter und ihrer zwei Kinder zu ziehen, eine Kleinstadt, 60 km von Kiew entfernt. Wir kauften ein neues zweistöckiges Haus, das vorerst nur aus Wänden und Dach bestand, wir pflanzten Bäume, meine Frau legte einen großen Blumengarten an, wir begannen mit dem Innenausbau, alles eigenhändig, der Traum vom eigenen Zuhause …“
Dann, ein paar Monate später, der 23. Februar 2022, der Überfall Russlands, das Zuhause unbewohnbar:
„Am ersten Tag des großen Krieges ging ich zum Rekrutierungsbüro, um mich freiwillig zu melden. Wir waren mehrere Hundert, ich wurde registriert und man sagte mir, dass ich auf meinen Aufruf warten solle. Da ich vorerst nicht an der Reihe war, trat ich einer örtlichen Selbstverteidigungseinheit bei und wurde – mein militärischer Rang ist Oberfeldwebel – als Gruppenführer eingeteilt. Unsere Aufgabe war es, eine Brücke zu bewachen, die über die Rossawa führt, um Kiew zu schützen.“
Was Vasyl dann berichtet, erinnert an die 5000 Helme, den spontanen Beitrag der deutschen Regierung, um Putins Angriff zu stoppen, seinerzeit eine „Verschlusssache mit dem Geheimhaltungsgrad ‚VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH‘“. Das war im März 2022, Vasyl sicherte die Brücke:
„Wir hatten keine Waffen – nur eine Jagdflinte und einige Dutzend Molotowcocktails, um feindliche Fahrzeuge im Falle eines Angriffs in Brand zu setzen. Wäre es dazu gekommen, wären wir alle gestorben. Aber es gab keine Angst – nur Hass auf den Feind. Die Russen beschossen Kiew und andere Städte ausdauernd. Ihre Flugzeuge und Raketen flogen über uns hinweg. Einmal kam es direkt über uns zu einem Luftkampf. Ein ukrainischer Pilot schaffte es, ein russisches Flugzeug abzuschießen. Wir waren über diesen Sieg sehr glücklich. In meiner Gruppe waren fünf Ukrainer zwischen 40 und 50 Jahren. 8 bis 10 Stunden hielten wir jeden Tag Wache. Auf der Brücke war es windig und kalt, wir waren einen Monat da jeden Tag. Wir wurden nicht krank. Und, nein, wir bekamen keinen Lohn, wir waren freiwillig auf dieser Brücke.“
Während Tanya, seine jüngste Tochter, und ihre zwei Kinder, 7 und 14 Jahre alt, von Bekannten in Bochum dringend gebeten werden, vor den Russen nach Deutschland zu fliehen:
„Meine Tochter war erneut schwanger, sie nahm nur das Nötigste mit, das sie in den Händen tragen konnte. Sie wurden beschossen und bombardiert, aber sie schafften es an die polnische Grenze. Anfang März kamen sie in Bochum an, unsere Bekannten halfen ihr sehr dabei, sich einzurichten, einzugewöhnen, den Papierkram zu erledigen.“
Vasyl und seine Frau ziehen ihr später nach:
„Wir haben jetzt eine Wohnung ganz in der Nähe unserer Tochter und unserer Enkelkinder. Unsere Tochter besuchte Integrationssprachkurse, die Enkel eine Schule, mittlerweile können sie ziemlich gut Deutsch sprechen. Und wir helfen unserer Tochter bei der Betreuung der Kinder.“
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Es klingt, als beschreibe er ein ganz normales Leben, es ist das nicht:
„Wir hatten alle auf ein schnelles Ende des Krieges gehofft und auf unseren Sieg. Wir dachten, dass die demokratischen Gesellschaften Wege finden würden, den Aggressor zu stoppen. Dass ein solches Verhalten Russlands im 21. Jahrhundert, im Herzen Europas, toleriert werden könnte, wirkt wie ein Rückfall in die Barbarei.“
Wieder sortiert er, was er berichtet, historisch ein:
„Mich erstaunt die Haltung einiger Bürger des zivilisierten Europas gegenüber Putins Imperium. Diese anhaltende Toleranz gegenüber Russland, das über Jahrzehnte hinweg militärische Aggressionen gegen rechtmäßige Regierungen geführt hat – in Ostdeutschland 1953, Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Angola, Nicaragua, Afghanistan, Syrien, Georgien, Moldawien … Jetzt Europa, die Ukraine, sie drohen mit Atomwaffen. Und trotz allem glauben so viele weiterhin an die russische Propaganda von einer ‚Bruderschaft der Völker‘… “
Und dann zitiert Vasyl einen russischen Literaten, Iwan Andrejewitsch Krylow (1769 – 1844), den großen Dichter von Fabeln, eine russische Institution:
„‘Der Wolf fiel über das Lamm nicht her, weil er hungrig war, sondern weil er ein Raubtier ist.‘“
Ende von Politik? Vasyl spricht von der „imperialen Natur‘“, die Putins Russland einwohne:
„Die Vorschläge, ihnen einfach einen Teil der besetzten Gebiete zu überlassen, werden den Aggressor nicht aufhalten. Welchen Teil seines schönen Landes sollte Europa denn noch an Putin übergeben, damit der ‚satt‘ wird? Absurde Vorstellung.“
Absurd nicht deshalb, weil es so etwas wie eine imperiale Natur gäbe, sondern weil es ein „historisches Paradox“ gibt, das sich in Vasyls Familiengeschichte verdichtet:
„Im Jahr 1941 floh mein Vater vor dem Krieg und den Deutschen nach Russland. Damals wurde er dort aufgenommen. Dort, in der Fremde, wurde ich geboren. Und nun, ein Menschenalter später, müssen ich, meine Kinder und Enkel vor den Russen fliehen. Und haben bei den Deutschen Zuflucht gefunden. Und jetzt besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich hier, in der Fremde, sterben werde, ein Opfer zweier Kriege.“
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Wer immer dieser Tage mit Ukrainern spricht, kennt diese Irritation, die einen leise angeht und dann nicht mehr verlässt: Da ist einerseits die vertraute Stimme, die vertraulich flüstert, man habe doch aus der Geschichte gelernt, habe sie didaktisch im Griff und das Lernziel erreicht, und dann steht einem Vasyl gegenüber, die freundliche Stimme aus einem Land, das Timothy Snyder als „Bloodlands“ beschrieben hat, und diese Stimme sagt:
„Wir mögen Deutschland sehr – seine Stabilität, seine Architektur, seine Natur. Wir haben ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und Kleidung zum Anziehen. Und wir sind dankbar dafür aus vollem Herzen. Und gleichzeitig ist das Leben hier für die meisten von uns nicht der Inbegriff eines erfüllten Lebens. So haben wir uns das Leben in Europa nicht vorgestellt.“
Weil das Leben in Europa kein Zuhause ist, kein „Nest“, wie Vasyl sagt:
„Jeden Tag sterben unsere Angehörigen und Freunde, sie sterben weiterhin. In meiner engsten Umgebung sind es mittlerweile fast hundert. Die Demokratien der Welt haben die Kraft, das aggressive Russland zu stoppen. Es ist die Ukraine, die im Blut versinkt, sie hält die Grenze zwischen der Barbarei und der Zivilisation.“
Hält die Grenze?
„Nur gemeinsam.“
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Eine Stadt, zwei Planeten, drei Jahre Krieg. Ukrainer in Bochum #1